Wohin driftet die Mittelschicht?
Lebenschancen
Die Mittelschicht gilt als die Basis einer guten Demokratie. Je breiter und sicherer die Mitte aufgestellt ist, so sagen Sozial- und Politikwissenschaftler, desto gefestigter ist auch das Staatswesen. Doch wer gehört überhaupt zu dieser Schicht? Und welchen inneren Spannungen ist sie derzeit ausgesetzt?
8. April 2017, 21:58
Der Soziologe Steffen Mau charakterisiert die Mittelschicht in ihren Eigenheiten und in ihrer derzeitigen Dynamik. Vor allem aber entwickelt er ein Konzept, wie man Chancengleichheit und damit die Mitte stärken könnte.
Einkommenssicherheit, Berufsstand und Bildungsgrad
Die meisten Menschen glauben, dass sie dazu gehören, aber einen guten Ruf hat sie nicht unbedingt: die bürgerliche Mitte. Rund 60 Prozent der Bevölkerung zählt sich zur "gefühlten Mittelschicht". Doch wer nun wirklich dazugehört – ob es der Facharbeiter ist oder die Akademikerin –, das lässt sich im Einzelnen schwer ausmachen. Je genauer man hinsieht, desto unklarer wird die Definition.
Steffen Mau bestimmt in seinem Buch die Mittelschicht nach verschiedenen Merkmalen wie Einkommenssicherheit, Berufsstand und Bildungsgrad. Und obwohl er sagen würde, dass es "die eine Mittelschicht" streng genommen nicht gibt, kann er doch bestimmte Faktoren benennen, die für ihre Entstehung grundlegend sind: nämlich Bildung, Wohlstand und Massenkonsum. Eine breite Mittelschicht ist vor allem das Spezifikum der westeuropäischen Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg. Denn hier fand sie die besten Bedingungen.
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Was die Konstellation im Nachkriegseuropa so einmalig macht, sind die Zähmung des Kapitalismus durch politische Regulierung, soziale Umverteilung, Risikokompensation und der große Wohlstandsbauch der Mittelschicht. Der schwedische Soziologe Göran Therborn hat Westeuropa deshalb einmal als das "Skandinavien der Welt" bezeichnet.
Genau dieser Wohlstandsbauch muss aber nun offenbar abspecken.
Statusverluste
Immer wieder ist von der "Erosion der Mittelschicht" die Rede. Steffen Mau zeigt anhand diverser Studien und Statistiken diesen langsamen Wandel auf. Er stellt fest, dass Bildungschancen ungleich verteilt sind. Er zeigt, inwiefern die Einkommensschere weiter auseinander geht, wobei vor allem auch Erbschaften und Vermögenszuwächse eine Rolle spielen.
Mau erläutert auch, in welcher Weise die zunehmende Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen auch die Mittelschicht trifft und hier teilweise zu Prekarität und Statusverlusten führt. Dabei sind nicht alle Beteiligten gleichermaßen von den Veränderungen betroffen, vielmehr geht ein Riss direkt durch die Mitte hindurch:
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Ein Teil lebt nach wie vor in gesicherten Verhältnissen, ein Teil wird immer verwundbarer. (...) Zwei Lehrer mögen sich in der Schule die Klinke in die Hand geben und können doch in ganz unterschiedlichen Sicherheitswelten leben: Hier der Beamte mit planbarer Laufbahn und Aussicht auf Frühverrentung, dort der sich von Jahresvertrag zu Jahresvertrag hangelnde Angestellte ohne Aussicht auf Festanstellung. (...) Status und Sicherheit hängen heute nicht mehr allein vom Beruf, sondern auch vom Beschäftigungsverhältnis, von der jeweiligen Branche, Region oder einfach vom Zeitpunkt des Markteintritts ab.
Aufstiegskanäle werden dünner
Die Mittelschicht ist einerseits, wenn es ihr gut geht, eine große Integrationsmaschine. Wer aufsteigen will und Chancen nutzt, der kann hineinkommen. Doch genau dieser Zugang zu Chancen verengt sich derzeit. Die "Aufstiegskanäle werden dünner" meint Mau, und damit verändert sich auch das Gesicht der Mittelschicht. Sie reagiert mit Abgrenzung und Schließung nach unten, mit Kälte, Misstrauen und Statussicherung. Sie verbarrikadiert sich im Turm ihrer verbleibenden Privilegien. Interessant ist dabei eine Beobachtung, die Steffen Mau für die Heiratsmärkte macht:
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Heirateten Chefs früher ihre Sekretärinnen und Ärzte ihre Sprechstundenhilfen über Schichtgrenzen hinweg, lässt sich heute ein Trend zu Bildungshomogamie beobachten. Immer mehr Paare haben einen ähnlichen Bildungs- und Sozialstatus, wodurch die Gelegenheiten seltener werden, bei denen man andere Milieus kennen lernt und versteht, wie sie ticken und was sie bewegt. Im Grunde entstehen auf diese Weise jene Parallelgesellschaften, die in Bezug auf Menschen mit Migrationshintergrund vermieden werden sollen.
Abnehmende Solidarität
Wenn sich der Kampf um Lebenschancen verschärft, hat das vor allem Konsequenzen für die gesellschaftliche Solidarität. Sie wird kleinteiliger, meint Mau, Solidarität ist heute eher auf den Nahbereich bezogen und zersplittert in verschiedene Bereiche. Zugleich wachsen Ressentiments gegenüber unteren Schichten und den angeblichen "Sozialschmarotzern".
Steffen Mau weist ausdrücklich darauf hin, wie ideologisch diese Vorbehalte sind, denn der größte Nutznießer des Sozialstaats ist immer noch der Mittelstand. Er profitiert von den Staatsausgaben für Bildung, Erziehung, Kultur, Renten, soziale Sicherung am meisten - die Transfers zirkulieren meist innerhalb der Statusgruppe selbst, und oft handelt es sich nur um eine Umverteilung zwischen den Lebensphasen der einzelnen. Wer heute zahlt, profitiert morgen.
Der "Lebenschancenkredit"
Wie ließe sich aber der Stress, der das soziale Klima belastet, am besten verhindern? Ohne Umverteilung der Ressourcen und ohne mehr Chancengerechtigkeit wird es nicht gehen, meint Mau. Und er hat eine Idee: den Lebenschancenkredit.
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Der Lebenschancenkredit stellt Menschen einen bestimmten Geldbetrag zur Verfügung, über den sie mehr oder weniger frei verfügen können. Der Chancenkredit sollte für alle Bürger gleich hoch sein. (...) Denkbar ist eine Größenordnung zwischen 30.000 und 60.000 Euro. Allerdings sollte das Guthaben nur in bestimmten Bereichen verwendet werden, bei denen wir ausgehen können, dass sie unmittelbar auf die Lebenschancen Einfluss haben.
Für Steffen Mau ist der "Lebenschancenkredit" nur ein Mittel unter anderen, das aber exemplarisch für einen neuen Geist der Sozialpolitik stünde. Das Konzept, das er in Anlehnung an Ralf Dahrendorf "Lebenschancen" nennt, ist eines, das Perspektiven öffnet, nicht Perspektiven verschließt. Es ist ein Konzept, das auf Eigenverantwortung setzt, aber gleichzeitig jedem ein Anrecht auf Unterstützung zuspricht. Ein solches Konzept würde sich auf das besinnen, was im Kern die Idee der Mittelschicht ausmacht: Beweglichkeit und Wille zum Aufstieg.
Perspektive von außen
"Lebenschancen" liest sich sehr flüssig, fast wie ein Roman. Zwar referiert das Buch über weite Strecken bereits bekannte Thesen und bezieht sich vornehmlich auf Deutschland, doch die Erkenntnisse sind auf andere Länder übertragbar, und das Buch gibt einen breiten Überblick zur Diskussion um Mittelschicht, gesellschaftlichen Wandel und Gerechtigkeit.
Steffen Mau stammt ursprünglich aus Ostdeutschland, und das merkt man dem Buch auf gute Weise an. Es ist von einem geschrieben, der nicht in der saturierten Mittelstandsgesellschaft aufgewachsen ist. Der Blick von außen macht den Autor verständnisvoll und distanziert zugleich. Eine solche Perspektive tut dem Thema gut.
Service
Steffen Mau, "Lebenschancen. Wohin driftet die Mittelschicht?", Suhrkamp-Verlag
Suhrkamp - Lebenschancen
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