Lob der Grenze
Der Philosoph Konrad Paul Liessmann ist einer der profiliertesten Vertreter seiner Zunft. Als Studierender in den wilden 1979ern hielt er zeitweilig die Fahne des "maoistischen Internationalismus" hoch. Heute gilt Liessmann als undogmatischer, pointiert formulierender Analytiker der Zeitläufe. "Lob der Grenze" heißt das neues Buch des Wiener Philosophen.
8. April 2017, 21:58
Morgenjournal, 27.8.2012
Natürlich, die "Krise": Auch Konrad Paul Liessmann kommt in seinem glänzend geschriebenen Essayband um das dominierende Thema der letzten Jahre nicht herum. Sein Befund: Wir wissen gar nicht, wie gravierend diese Krise überhaupt ist:
"Ich denke, Zeitgenossen wissen selten, in welcher Zeit sie leben", meint Liessmann. "In welcher Art von Krise wir leben, werden wir wohl erst im Rückblick erkennen können. Ob das, was wir jetzt erleben, der Auftakt zu einer gravierenden Veränderung des gegenwärtigen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems ist, oder ob diese Krise nichts anders war, als das von großem Getöse begleitete Blubbern der Finanzmärkte, das wir vielleicht in drei Jahren schon vergessen haben werden - das lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sagen." Auf Deutsch: Nichts Genaues weiß man nicht.
Marx-Comeback
Konrad Paul Liessmann riskiert in seinem Essayband, einer Sammlung von 13 Texten zu den unterschiedlichsten Themen, trotz allem eine Diagnose, wobei er sich auf den Titel seines Buchs bezieht - "Lob der Grenze":
"Es stellt sich schon die Frage, ob unser Wirtschafssystem und unser Gesellschaftssystem nicht an gewisse Grenzen gestoßen ist; ob nicht entfesselte Finanzmärkte, die keine Grenzen mehr kennen, kontraproduktiv sind; ob nicht entfesseltes Wachstum, das keine Grenzen mehr kennt, irgendwann einmal kontraproduktiv wird."
Konkrete Lösungen zur hellenischen Misere oder zur Weltfinanzkrise hat Konrad Paul Liessmann natürlich nicht parat. Aber er prognostiziert ein philosophisches und politisches Revival des Marxismus. Das überrascht dann doch bei einem Gesellschaftsdiagnostiker, der Anfang der 1990er Jahre mit seinem Buch "Karl Marx - Man stirbt nur zwei Mal" einen brillanten Abgesang auf den Marxismus vorgelegt hat.
"In einer bestimmten Hinsicht ist ein Comeback von Marx, denke ich, durchaus zu erwarten", so Liessmann. "Das wird wahrscheinlich nicht der politische Marx sein, das wird wohl auch nicht der utopische Marx sein, auch nicht der Marx, der von einer kommunistischen Gesellschaft geträumt hat. Dieses Experiment ist gescheitert. Aber Marx als Analytiker des Kapitalismus, Marx als jener Theoretiker, der vielleicht wie kein anderer sein Leben der Erforschung jenes Gesellschaftssystems gewidmet hat, in dem wir noch immer leben, dieser Marx ist hochinteressant."
Überwindung des Kapitalismus
Natürlich: An die große gesellschaftliche Umwälzung, sei sie sozialistischer, gemeinwohlökonomischer oder sonstiger Natur, glaubt Liessmann nicht. Er schreibt:
Zitat
Die furchtbaren Erfahrungen, die die Menschheit mit allen Versuchen, den Kapitalismus zu überwinden, gemacht hat, erlauben es uns nicht mehr, blauäugig an einer großen Alternative zu basteln, obwohl sie naturgemäß denkmöglich wäre. Der Kapitalismus ist kein Naturgesetz, auch wenn das manche seiner Apologeten gerne so sähen. (...) Aber am historischen Horizont zeichnet sich keine Perspektive zur Überwindung des Kapitalismus ab. Realistischer wäre unter der Annahme einer fundamentalen Systemkrise der Versuch, jene Balancen zwischen privaten Interessen und öffentlichem Wohl, zwischen Markt und Staat wiederzufinden oder überhaupt erst herzustellen, an denen es offenbar mangelt.
Konrad Paul Liessmann singt das Hohe Lied der Balance. Bei Licht betrachtet ist es also nicht so sehr der alte Marx, dem der Wiener Philosoph ein glanzvolles Comeback wünscht, als vielmehr der Rheinische Kapitalismus seligen Angedenkens, auch "Soziale Marktwirtschaft" genannt. Man wird bescheiden mit der Zeit.
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Zsolnay Verlag - Lob der Grenze
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