Manifeste zur Veränderung der Gesellschaft

L'Architecture Engagée

Ebenezer Howard hatte einen Traum. Er träumte von der Gartenstadt. Als Reaktion auf die planlos expandierenden Städte seiner Zeit mit ihrem Schmutz und Gestank und den vor allem für die Unterschicht katastrophalen Lebens- und Arbeitsbedingungen entwickelte der Londoner Stenotypist seine Vision einer grünen und friedlichen Stadt und gründete 1899 die "Garden City Association".

Sein Konzept beschrieb er in einem vielbeachteten Buch: "Tomorrow. A Peaceful Path to Real Reform" erörterte Probleme der Flächennutzung, der Bodenfrage und der Verwaltung und Finanzierung einer Idealstadt, die sich in Gemeinschaftsbesitz befinden sollte. Howard stellte sich eine kreisförmig angelegte, von mehreren Satellitenstädten umgebene Zentralstadt vor, mit Ringstraßen, Kanälen und innerstädtischer Eisenbahn, viel Grünflächen und einen großen Park im Zentrum. "Stadt und Land müssen sich vermählen", meinte Howard, "und aus dieser erfreulichen Vereinigung werden neue Hoffnung, neues Leben und neue Kultur entstehen."

"Die Idee, die er hier entwickelt, ist, dass man die Vorteile des Stadtlebens und die Vorteile des Landlebens verknüpft zu etwas, was er Stadt-Land bezeichnet und dann unter dem Titel Garden City verbreitet worden ist", sagt Winfried Nerdinger. "Eine Idee, die unglaublich gezündet hat. Es entstanden überall in Kürze sogenannte Gartenstädte."

Architektonische Ideen

Wie Ebenezer Howards kühnes Konzept ursprünglich aussah und wie es später pervertiert wurde – aus einer grünen Stadt, die ihren Bewohnern gehören sollte, wurden begrünte Anlagen mit Miet- und Eigentumswohnungen -, das kann man nun nachlesen in dem Buch "L'Architecture Engagée", herausgegeben von Winfried Nerdinger. 17 Experten schreiben über Garten- und Bandstädte, Öko- und Kommunehäuser, partizipatives Bauen und sozialistische Siedlungen, über "Ökotopia" und "New Babylon".

"Es geht nicht um das unendlich weite Feld von Entwürfen zur Verbesserung von Wohnverhältnissen, zur Optimierung von Mobilität, Produktion und Urbanität im Rahmen bestehender Strukturen", erklärt der Münchner Architekturhistoriker. "Vorgestellt wird eine Auswahl von architektonischen Ideen und Programmen, mit denen manifestartig (...) eine strukturelle Veränderung und Neuordnung gesellschaftlicher Zustände proklamiert wurde."

"Es geht um das, was Ernst Bloch und Karl Mannheim einmal genannt haben 'progressive Utopien'. Also Vorstellungen zur Veränderung, zur Emanzipation der Gesellschaft", sagt Nerdinger. "Wie kann man die Gesellschaft mittels Architektur zum Besseren hin verändern? L'Architecture Engagée ist eigentlich die Übertragung einer Begriffsprägung, die Sartre 1947 vorgenommen hat. Er sprach von 'litterature engagée'. Und wir haben die Begrifflichkeit nun auf Architektur übertragen."

Lehre vom "richtigen Verhältnis"

"L'Achitecture Engagée" ist chronologisch geordnet – und beginnt mit den Aufklären und Philanthropen und ihren auf den Idealen von Natürlichkeit und Freiheit fußenden Visionen. Der Kaufmann Franz Heinrich Ziegenhagen entwickelte 1792 seine Lehre vom "richtigen Verhältnis", die zu einem geordneten Bauen führen sollte, zu einer "zusammenhängenden Stadt in einem ununterbrochenen Garten". Das Projekt ist über feine Kupferstiche nicht hinausgekommen.

Der Arzt Bernhard Christoph Faust und der königliche Baurat Gustav Vorherr propagierten die "Sonnenbaulehre" – und träumten von schöneren Städten, besseren Bürgern und veredelter Menschheit. In ihren streng geometrisch konzipierten Sonnenstädten sollte es viele öffentliche Plätze, große Rasenflächen und helle, saubere Häuser geben.

"Da steckt die Idee der Französischen Revolution, der egalité aller Menschen, dahinter", meint Nerdinger. "Alle Menschen sind gleich unter der Sonne. Das soll nun in Architektur umgesetzt werden, in Häuser, die alle gleich zur Sonne gerichtet sind, da ist keiner mehr besonders hervorgehoben. Und deswegen: freies Licht, freie Luft, freie Bürger, freies Leben unter der Sonne. Das war wirklich etwas Revolutionäres, und bezeichnenderweise wurde der Architekt Gustav Vorherr 1825 mit Regierungsantritt Ludwig I. sofort entlassen."

Ideal der klassenlosen Gesellschaft

Radikale Architektur- und Städtebau-Visionen hat vor allem das 19. Jahrhundert hervorgebracht. Der Schotte Robert Owen gründete 1824 in den USA die Siedlung "New Harmony". Sie zielte auf Gütergemeinschaft, gleiche Lebensführung und genossenschaftliche Produktion ab und sah quadratisch angelegte Parzellen mit Gemeinschaftseinrichtungen im Zentrum vor.

Einen genossenschaftlich organisierten Staat wollte auch der französische Sozialist Charles Fourier. Er entwarf ein "Versailles fürs Volk", eine schlossähnliche Anlage, genannt "Phalanstère", wo man wie in einer Kommune arbeiten und wohnen und doch auch seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse ausleben können sollte. Und William Morris entwarf ein London des 21. Jahrhunderts als Idylle mit kleinen Ansiedlungen, in denen eine klassenlose Gesellschaft in vorindustriellen Zuständen lebt.

"Was damit verknüpft ist, dass auch überlegt wird, wie könnte das umgesetzt werden", so Nerdinger. "Dabei geht es jedes Mal auch um den Grund und Boden und um die Machtverhältnisse. Normale Utopien sagen einfach, wir schaffen etwas völlig Neues, unabhängig davon, was es bislang gibt. Diese Denker ab der Aufklärung sagen, wie können wir es schaffen, wirklich etwas zu verändern? Da setzen sie bei dem an, was ganz entscheidend unsere Gesellschaftsstruktur bestimmt, das sind die Besitzverhältnisse. Und deswegen die meisten Konzepte mit der Vorstellung, man schafft für ein Kollektiv einen Gemeinschaftsbesitz - und schaltet damit das individuelle Besitzdenken aus."

Die Gemeindebauten des Roten Wien

Doch Owen, Fourier & Co. unterschätzten die Macht des Faktischen – und scheiterten mit ihren Plänen. Ihre Entwürfe wurden nie realisiert, wie die meisten der in dem Buch vorgestellten. Architektur, die die Welt verändern wollte, hätte selbst einer anderen, veränderungswilligeren Welt bedurft.

Doch nicht alles blieb Vision. Das Buch befasst sich auch mit den Gemeindebauten des Roten Wien, dem bis heute vielleicht erfolgreichsten Projekt einer sozialdemokratisch regierten Kommune, wo bis 1934 mehr als 65.000 Wohnungen in "Superblocks" entstanden, mit großen Innenhöfen für das Gemeinschaftsleben, das die Solidarität des Proletariats fördern sollte. Es beschreibt die Wohnsiedlungen, die Ernst May in Frankfurt am Main in den 1920er Jahren baute oder die Hufeisensiedlung in Berlin-Britz von Bruno Taut aus der gleichen Zeit, aber auch die Kibbuz-Projekte und Genossenschaftsdörfer in Israel oder das legendäre Narkomfin-Kommunehaus von Ginsburg und Milinis in Moskau.

"Mittels dieser Kommunehäuser sollte letztlich die Form der bürgerlichen Ehe aufgebrochen werden", meint Nerdinger. "Da gab es nur so kleine Wohnzellen, wo man nur zum Schlafen hinging; das gesamte übrige Leben sollte in Gemeinschaftsräumen stattfinden: gemeinsam essen, gemeinsam Sport treiben, waschen oder andere Dinge machen. So sollte eine komplett andere Form des Zusammenlebens entstehen, der kollektive sozialistische Mensch. Dafür wurden einige Wohnanlagen auch errichtet, nach diesem Prinzip der Kommunehäuser. Aber es zeigte sich sehr schnell, dass dieser Versuch, die Ehe aufzubrechen, eben nicht funktionierte."

Ökotopia

"Visionen für demokratische Entwicklungen" heißt das letzte Kapitel einer äußerst anregenden Auseinandersetzung mit "engagierter Architektur". Frank Lloyd Wright entwickelte seine Vorstellung von horizontal ausgebreiteten Städten als "bewohnten Landschaften" an der amerikanischen Ostküste im Gegensatz zu den von ihm verschmähten Wolkenkratzer-Städten des Westens. Flache, weit ausgedehnte Städte seien die wahre demokratische Bauform, schrieb er 1945 in "When Democracy Builds".

Die Situationisten wiederum, eine vor allem in den 1960er Jahren aktive Gruppe von linksorientierten Intellektuellen, lehnten jede Form von bürokratischer Planung strikt ab und schwadronierten vom freien Herumschweifen in einer Stadt des "spielerischen" Menschen.

Konkreter war da schon Ernest Callenbach mit seinem Entwurf von "Ökotopia". Im Anschluss an die Ölkrise 1973 machte sich der Filmhistoriker Gedanken über einen künftigen Staat im Einklang mit der Natur, in dem sich alles am Prinzip der Nachhaltigkeit orientiert. Das alles blieb Papier - im Gegensatz zu den Ökohäusern von Frei Otto, die am Ende des Buches beschrieben werden. Der Architekt entwickelte diese Häuser auf der Basis eines partizipativen Bauens, im Austausch mit den Bewohnern über ihre ureigensten Bedürfnisse.

Blick zurück

Und heute? Heute scheint die Idee einer "L'architecture engagée" obsolet, zumindest aber nicht mehr wirklich attraktiv zu sein. Vielleicht auch deshalb, weil nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Utopie Utopien generell verdächtig erscheinen. Für Winfried Nerdinger jedenfalls ist die heutige Architekturszene weitgehend systemkonform - zwar bemüht um ein nachhaltiges, innovatives und umweltschonendes Bauen, nicht aber um ein gesellschaftsveränderndes:

"Es geht letztlich immer nur darum, dass das, was hier jetzt vorhanden ist, so bleibt, mit seinen Machtstrukturen, mit seinen Besitzverhältnissen. Aber dass man sich überlegt, dass das, was heute uns diese Probleme schafft, ja durch eine ganz bestimmte Gesellschaftsstruktur, durch bestimmte Besitzverhältnisse entstanden ist, dass man da vielleicht die Vision ansetzen müsste, dass hier vielleicht etwas verändert werden müsste, dazu gibt es überhaupt keine Überlegungen. Natürlich gibt es die Occupy-Bewegung. Aber weil sie in Zeltstädten wohnen, wollen sie ja nicht mittels dieser neuen Behausungsform die Bankenmacht brechen. Das hat miteinander überhaupt nichts zu tun."

Bleibt als Trost nur der Blick zurück, wie ihn dieses informative, reich illustrierte und sehr lesenswerte Buch erlaubt: der Blick auf bizarre, megalomanische und zukunftsweisende Projekte mit ihren hochfliegenden, philanthropisch-idealistischen Manifesten, auf die kühn entworfenen Visionen von Sonnenbauten, Menschheitstempeln und Gartenstädten, Städten, aus denen, wie Ebenezer Howard träumte, "neue Hoffnung, neues Leben und neue Kultur" zu gewinnen sei.

Service

"L'Architecture Engagée. Manifeste zur Veränderung der Gesellschaft", herausgegeben von Winfried Nerdinger in Zusammenarbeit mit Markus Eisen und Hilde Strobl, Detail Verlag

Detail Verlag - L'Architecture Engagée