Bibelkommentar zu 1. Mose 4, 1 - 16
Es ist für Olivier Dantine eine der Stärken des sogenannten Alten Testaments, dass in ihm die meisten Aspekte des menschlichen Lebens vorkommen. Manche schreckt es allerdings ab, dass auch Gewaltgeschichten zu lesen sind.
8. April 2017, 21:58
Aber weil sie nicht ausgeblendet werden, erweisen sich gerade alttestamentliche Texte als erstaunlich aktuell.
Am Beginn der Menschheitsgeschichte steht schon die Gewalt. Kain, der erste geborene Mensch wird zum Mörder. So betrachtet hat die Bibel doch eine sehr pessimistische Sicht auf die Menschheit. Und doch eine realistische, begleiten doch seit Menschengedenken Hass, Neid, Gewalt und Krieg die menschliche Existenz. Manche Exegeten sehen in dieser Erzählung den Übergang von der nomadischen zur agrarischen Lebensweise abgebildet, sowie den dadurch entstehenden Konflikt um das Land und den Landbesitz. Abel, der Hirte, der auf den freien Zugang zum Weideland angewiesen ist, wird von Kain, der als Ackerbauer Land besitz, erschlagen.
Es kann gut sein, dass sich ein solcher Konflikt in der Bibel wiederspiegelt, aber ich glaube nicht, dass diese Erzählung auf diesen Konflikt reduziert werden sollte. Denn wesentlich ist hier gar nicht so sehr das Verhältnis der beiden Brüder zueinander, sondern das Verhältnis des älteren Bruders Kain zu Gott. Abel, dessen Name schon „Hauch“, „Vergänglichkeit“ bedeutet, spielt nur eine tragische Nebenrolle. Kain aber mit seinem Neid und seinem Zorn gegenüber Gott steht hier im Mittelpunkt.
Wie sein Bruder Abel bringt Kain Gott Opfer dar, Gott aber nimmt Kains Opfer nicht an. Warum Gott in dieser Erzählung so handelt, wissen wir nicht, genauso wenig, woran Kain das merkt, dass sein Opfer nicht angenommen wird. Diese Fragen bleiben offen, in absoluter Souveränität tut Gott das, was er tut, begreifen können wir Menschen das nicht. Für mich durchaus verständlich gerät Kain über Gottes Handeln in Zorn. Aber mit diesem Zorn ist das Tor zur Gewalt aufgetan: Kain erschlägt seinen Bruder Abel.
„Kain, wo ist dein Bruder Abel?“, fragt Gott. Das ist die wesentliche, die entscheidende Frage. Und da hilft es nicht, wenn Kain Gott die Gegenfrage entgegenschleudert: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“. Kain schiebt die Verantwortung weg, er schiebt sie auf Gott: Wäre Gott nicht so ungerecht gewesen, wär das nicht passiert! Hätte Gott doch seinen Bruder behütet, hätte Gott ihn doch von dem Mord abgehalten!
Auf diese Diskussion lässt Gott sich gar nicht ein. Es bleibt die Frage: „Wo ist dein Bruder?“ Eine Frage, die, wie ich meine, auch uns heute gilt. Es ist die Frage, die den Menschen in die Verantwortung für seinen Mitmenschen ruft. Die Versuchung freilich ist groß, wie Kain zurückzufragen: Soll ich der Hüter des abgewiesenen Asylwerbers sein, dem die Abschiebung aus Österreich droht? Soll ich der Hüter der Menschen sein, deren Lebensgrundlage durch den Klimawandel immer mehr bedroht wird? Soll ich der Hüter jener Arbeiterinnen und Arbeiter sein, die unter widrigen Bedingungen die Produkte fertigen, die ich billig kaufen kann?
Nein, ich kann nicht so tun, als gingen mich diese Menschen nichts an, selbst wenn ich sie vielleicht nie zu Gesicht bekomme. Denn es ist gerade Gottes Auftrag an mich: Sieh hin, was in dieser Welt passiert, sieh hin, was deine Art zu leben auf der anderen Seite der Welt für Auswirkungen auf die Menschen hat, sieh hin, wo Menschen Opfer von Ungerechtigkeiten und Gewalt sind. Auch wenn ich keine direkte Schuld trage – vor der Verantwortung für andere kann ich mich nicht drücken. Gerade das Wegsehen nämlich fördert noch Ungerechtigkeiten, fördert auch die Gewalt.
Und das ist neben der Verantwortung des einzelnen Menschen für den anderen das zweite große Thema in dieser Erzählung von Kain und Abel: Was macht die Gewalt aus Menschen, und wie kann der Gewalt begegnet werden? Die Folge von Kains Gewalttat ist dramatisch: Das Blut seines Bruders schreit zu Gott von der Erde, die Erde ist nun von Abels Blut getränkt. Unbrauchbar ist damit der Ackerboden geworden. Kain wird unstet und flüchtig auf dieser Erde sein. Nichts weniger ist damit ausgesagt, als dass die Gewalt, die Menschen anderen Menschen antun die Lebensgrundlagen der Menschen zerstört, und zwar auch auf der Seite derer, die Gewalt ausüben. Es gibt unzählige Beispiele dafür, dass das Antworten auf Gewalt mit Gegengewalt einem gerade nicht mehr Sicherheit und schon gar nicht Frieden bringt, sondern ganz im Gegenteil: Dieser Kreislauf dreht sich dann immer schneller.
Und so lese ich diese Geschichte von Kain und Abel auch als Erzählung, die genau diesen Kreislauf beenden will. Denn Kain äußert die verständliche Befürchtung, dass er vogelfrei umherirren muss, und von anderen erschlagen wird. Gott aber schützt ausgerechnet den Mörder. Gott macht ihm ein Zeichen, damit niemand ihn erschlägt. Dieses Kainsmal ist eben kein Schandmal, sondern das Zeichen, das aller Welt sagt: Dieser Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt soll ein Ende haben. Kain soll leben, trotz der Schuld, die auf ihm lastet.
Ins Heute übersetzt heißt das für mich: Freilich werde ich nicht die Gewalt in der Welt beenden. Trotzdem gehört die Überwindung von Gewalt zu den permanenten Aufgaben – nicht nur als Christin, als Christ. Das beginnt im Kleinen bei der Frage, welche Konfliktkultur ich meinen Kindern beibringe, und wie ich selbst in Konflikten mit anderen Menschen umgehe und geht zumindest bis dahin, dass ich Menschen unterstütze und stärke, die in Kriegsregionen sich friedlich für ein Ende der Gewalt einsetzen. Kleine Schritte sind möglich und auch notwendig. Das Ziel steht seit Beginn der Menschheitsgeschichte, seit Kain und Abel, fest: Mit der Gewalt in der Welt sollen Menschen sich niemals abfinden.