Warum Träume so schnell verloren gehen
Das Buch des Vergessens
In Douwe Draaismas "Buch des Vergessens" geht es um die verschiedensten Aspekte des Vergessens. Der Psychologe thematisiert das Image des Vergessens, das meist negativ mit Streichen, Festplatte löschen und Ausradieren assoziiert wird.
8. April 2017, 21:58
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Die Umkehrung der Metapher hat die Idee genährt, Erinnern und Vergessen seien konträr verlaufende Prozesse, die sich gegenseitig ausschließen. Woran sich jemand erinnert, das ist offensichtlich nicht vergessen, und was er vergessen hat, daran wird er sich nicht erinnern können. Vergessen ist das Minuszeichen vor der Erinnerung. Doch hier werden wir von unseren eigenen Metaphern verhext. In Wirklichkeit gehört das Vergessen zur Erinnerung wie Hefe zum Teig. Unsere Erinnerung an "erste Male" allerlei Arten erinnert uns an all die vergessenen Male, die darauf folgen.
Von vergessenen Erinnerungen
Laut Untersuchungen haben die ersten Kindheitserlebnisse, an die wir uns als Erwachsene noch erinnern können, zwischen dem 3. und 4. Lebensjahr stattgefunden. Es sind vor allem visuelle Eindrücke, die bleiben. Ab dem Moment, ab dem das Kleinkind Erinnerungen mit Sprache verknüpfen kann, kann es sich an mehr Eindrücke erinnern.
Der Autor schreibt auch über Alzheimer, das Korsakow-Syndrom, eine Form der Amnesie, und über Kryptomnesie - was so viel heißt wie "vergessene Erinnerung". Hierbei speichert der Betroffene etwas bereits Erlebtes oder bereits Gehörtes nicht als Erinnerung ab, sondern empfindet es als etwas Neues, als etwas Eigenes. Wenn Erinnerungen von Staub befreit und ausgegraben werden, bringen diese nicht immer unbedingt Positives ans Licht. Draaisma schreibt über die Rolle von Archiven und alten Dokumenten und von der deutschen Autorin Susanne Schädlich, die beschreibt, wie ihre Erinnerungen an Gültigkeit verlieren, als sie erfährt, dass ihr Onkel ein Denunziant war.
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Wer entdeckt, dass er schon eine Zeit lang betrogen wurde, von einem Freund, einer Geliebten oder von Kollegen, hat danach nicht nur eine Zukunft, die anders aussieht als vor dem Betrug, sondern auch eine andere Vergangenheit. Durch die Erinnerung, etwa an ein gemeinsames Essen, mischt sich nun das Bewusstsein, dass der Betrug schon zu dieser Zeit lief. Erinnerungen haben die Fähigkeit, sich im Nachhinein zu verändern. Die zerstörte Erinnerung ist noch immer eine Erinnerung, aber nicht mehr an das ursprünglich Erinnerte, und daher ist dies auch ein Vergessen. Es ist beides zugleich.
Fotos als Gefahr für das Gedächtnis
Douwe Draaisma schreibt über die Sehnsucht und die Melancholie, nichts vergessen zu wollen, wenn es zum Beispiel um geliebte Verstorbene geht, nicht vergessen zu wollen, wie die Liebsten ausgesehen haben. Er beschreibt die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts üblichen Todesportraits, auf denen die Verstorbenen friedlich schlafend, in ewiger Ruhe abgebildet wurden oder so in Position gesetzt waren, als wären sie noch am Leben und bei ihrer Lieblingsbeschäftigung. Die retuschierten, leblosen, angekleideten Postmortem-Bilder waren vor allem in Amerika und England zu sehen.
Ein fotographisches Gedächtnis wünscht sich auch die Hauptfigur in Gustave Flauberts Roman "Madame Bovary". Flaubert erzählt von einem Witwer, der unaufhörlich an seine verstorbene Frau denkt, aber trotz aller Anstrengung ihr Bild nicht in seiner Erinnerung behalten kann.
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Was das Gedächtnis unterstützen sollte, erweist sich als Gefahr. Ein Foto bewahrt etwas, schrieb der niederländische Autor Rudy Kousbroek, aber es ist nicht immer klar, dass durch den Prozess des Aufbewahrens zugleich etwas vernichtet wird. Ein Porträtfoto, vor allem eines von einem Verstorbenen, tritt anstelle der Erinnerung; das Foto verdrängt sie, ersetzt sie, lässt etwas im Gedächtnis verblassen.
Von Edgar Allen Poe bis Sigmund Freud
Die Informationen im visuellen Gedächtnis werden sehr schnell erneuert. Zum Beispiel: Geht man nach einem Kinobesuch zum Parkplatz zurück, ist nur der letzte aktuelle Platz des Autos gespeichert und nicht all jene Orte, an denen das Fahrzeug jemals abgestellt war, das würde nämlich zu einem Herumirren in den Straßen führen. Unser Gedächtnis wirft überholte Informationen weg, überschreibt sie oder macht sie nicht mehr zugänglich. Auch wenn die Information gespeichert bleiben würde, würde unser Gedächtnis nicht besser funktionieren. Es wird also nur die neueste Information aktiviert.
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Es ist leicht, den evolutionären Vorteil daran zu erkennen. Aber derselbe nützliche Mechanismus entfernt auch die Erinnerungen an die früheren Gesichter unserer Eltern und Kinder, Mann, Frau und Freunde aus unserem Gedächtnis. Die Erinnerung an ihr Gesicht ist immer wieder überholt und erneuert worden, und dabei wurde die vorige Version entfernt. So wird das Betrachten von Fotos zu einer wehmütigen Aktivität: Es erinnert uns an das, was wir vergessen haben.
Douvwe Draaisma schildert unzählige historische Anekdoten von wissenschaftlichen Experimenten, erzählt von Edgar Allen Poe, Immanuel Kant, Sigmund Freud und vielen Figuren aus Literatur und Wissenschaft. Lebendig schildert er die Geschichte der Gehirnforschung, der Traumdeutung und des Unbewussten. Douwe Draaismas "Buch des Vergessens" enthält viele Informationen. Sich zumindest ein paar davon zu merken, wäre ein lohnendes Unterfangen.
Service
Douwe Draaisma, "Das Buch des Vergessens. Warum Träume so schnell verloren gehen und Erinnerungen sich ständig verändern", aus dem Niederländischen von Verena Kiefer, Galiani
Galiani - Das Buch des Vergessens