Hans Weiss: "Tatort Kinderheim"
"Viele Kinderheime in Österreich waren bis Mitte der 1980er Jahre wie Gefängnisse organisiert, wo Kinder geschlagen und gefoltert wurden. Und wer sich wehrte, kam in die Fänge der Psychiatrie." Dieses Bild zeichnet der Journalist und Psychologe Hans Weiss in seinem neuesten Buch "Tatort Kinderheim". Neu an seiner Schilderung ist der kritische Blick auf einige Psychiater des Landes.
8. April 2017, 21:58
Morgenjournal, 17.09.2012
Versuche an Heimkindern
Tausende Heimkinder sind als Versuchskaninchen verwendet worden - bis in die 1980er Jahre, laut Buchautor Hans Weiss. In den wissenschaftlichen Schriften von damals aber komme das Wort Kinder nur gelegentlich vor, so Hans Weiss: "Da ist in aller Regel nur die Rede von Versuchsmaterial oder Versuchsgut. Kinder waren vogelfrei, mit denen durfte jeder alles machen. Es ist mit unzähligen Substanzen und Medikamenten experimentiert worden. Niemand hat kontrolliert."
Laut dem Buch "Tatort Kinderheim" hat vor allem der 1997 verstorbene Wiener Klinik-Chef Andreas Rett Medikamentenversuche durchgeführt, unter anderem in den 60er Jahren mit Contergan, und Hans Weiss zufolge ohne Rücksicht auf Nebenwirkungen: "Er hat einfach frei nach Belieben Kinder verwendet für das was von der Industrie kam, vollkommen skrupellos. Ohne sich Gedanken darüber zu machen, was das unter Umständen für Auswirkungen haben könnte."
Weiss: Elektroschocks, Folter
Es gebe sogar Indizien, dass Rett und Hans Hoff nach dem Krieg mit dem Nazi-Psychiater Heinrich Gross geforscht haben - an Gehirnen von Kindern, die Gross am Spiegelgrund getötet hatte.
Nicht nur die Tiroler Kinderpsychiatrie-Chefin Maria Nowak-Vogl hat Kindern das Mittel Epiphysan gegen sexuelle Übererregtheit und Onanie gespritzt, auch Andreas Rett hat Epiphysan bei über 500 Kindern - Großteils mit Behinderungen – eingesetzt, so Weiss.
Das Buch thematisiert auch brutale Schockbehandlungen, etwa Elektroschocks, nicht nur gegen Depressionen. Hans Weiss spricht von Folter: "Das sind Leute geschockt worden, weil sie geraucht haben am Gang." Ein Verfechter der Elektroschocks war auch Erwin Ringel. Und Ringel war bis etwa 1970 beratender Psychiater der Erziehungsanstalt der Justiz für weibliche Jugendliche in Wiener Neudorf, geführt von den Schwestern "zum Guten Hirten". Mädchen, die den Nonnen nicht folgten, wurden weggesperrt, so Weiss: "In Verließ-artigen Räumen unterhalb der Kirche. Stockdunkel, bis zu zwei Wochen lang. Der Professor Ringel schreibt, wie liebevoll die Klosterschwester mit den Mädchen umgehen. In Wirklichkeit war das eine grausame Anstalt. Offenbar hat er da Augen und Ohren zugeklappt."
Verdienste kaum erwähnt
Das Buch erwähnt jedoch kaum die Verdienste der verstorbenen Psychiater. Erwin Ringel war ein Vorreiter der Suizid-Forschung und Prävention und Gründer der medizinischen Psychologie in Wien. Andreas Rett hat sich eingesetzt für die Anerkennung der seelischen und geistigen Ansprüche von behinderten Kindern. Er hat Musiktherapie und Logopädie eingeführt und hat als Entdecker des Rett-Syndroms Weltruf erlangt.