Comic über das Leben im Ostblock
Marzi
Es begann mit dem Karpfen in der Badewanne. Den fand man traditionell zu Weihnachten in jedem polnischen Haushalt. Marzena Sowa hat als kleines Mädchen dem Fisch im Badezimmer nicht nur einen Namen gegeben, sondern ihn auch mit Brot gefüttert. Keine besonders gute Idee, der Abfluss verstopfte und das Badezimmer stank noch lange nach Fisch.
8. April 2017, 21:58
Das war die erste Erinnerung an ihre polnische Kindheit, die Marzena Sowa ihrem Partner Sylvain Savoia erzählt hat. Der zeichnete diese Episode als Comic und brachte Marzena Sowa dazu, ihre Memoiren aufzuschreiben. Das Ergebnis ist die gelungene autobiographische Graphic Novel: "Marzi".
Alle sind gleich
Polen Mitte der 1980er Jahre. Das Mädchen Marzi wohnt mit ihren Eltern in der Südpolnischen Stahlwerkstadt Stalowa Wola, die übersetzt "Eiserner Wille" heißt. Eine Industriestadt, die sich durch Plattenbauten auszeichnet, die einander grau und blass gleichen. Selbst die Wohnungen haben teilweise die gleichen Grundschnitte. Konformität gilt als Credo.
Allen soll es gleich gehen, alle sollen das gleiche haben. Selbst als es plötzlich neue Kühlschränke gibt, haben alle Arbeiter des Stahlwerks den gleichen. Dennoch sitzt Marzi strahlend vor dem neuen Gerät und bemerkt: "Der neue Kühlschrank ist dreimal größer als der alte. Und fünfmal leerer."
Genauso leer wie der Kühlschrank sind die Geschäfte, langes Anstehen in der Kälte für Fleisch oder Zucker gehört zum Alltag. Wenn es überraschend ein Angebot gibt, kaufen alle Leute das gleiche in der gleichen Menge - also so viel wie möglich.
Die Familie hat kaum Geld, Marzi spielt mit ihrem wenigen selbstgemachtem Spielzeug und tobt mit den Nachbarskindern im Stiegenhaus. Besonders beliebt: das Papstspiel. Dabei stellen die Kinder die Polenreise des Papstes nach. Doch das bringt Ärger. Nicht zuletzt, weil Marzis Mutter streng katholisch ist. Für Marzis Mutter war, wie für viele in Polen, der Katholizismus und der Papstbesuch ein Hoffnungsträger für das ersehnte Ende des Kommunismus.
Manche sind gleicher als Andere
Denn die Erwachsenen leiden. "So kann es nicht mehr weitergehen", hört Marzi diese immer wieder sagen, bekommt aber keine weiteren Erklärungen. Aber auch das Kind kapiert, dass irgendetwas nicht stimmt, dass doch nicht alle gleich sind. Dass es plötzlich reichere Nachbarn gibt und dass die ganz anders behandelt werden. Ihre neue Nachbarin Goisa etwa.
Zitat
Goisa hat einen Farbfernseher und ihre Mutter gibt ihr Schulbrote in glänzendem Papier mit. Meine sind in grauem Papier, mit Butterflecken. Das macht ein schreckliches Geräusch. Andere haben auch das glänzende Papier. Das habe ich zu Hause gesagt. Meine Mutter meinte, ich sollte froh sein, Brote zu haben. Das Papier sei nicht wichtig.
Die Katastrophe von Tschernobyl schürt erneut den Zorn der Erwachsenen. Es kommt zu ersten Streiks in Fabriken, an denen auch Marzis Vater teilnimmt. Widerstand gegen den Staat geschieht mit einfachen aber klaren Mitteln. So schauen die Erwachsenen nicht mehr die Nachrichten an, sondern schalten in dieser Zeit den Fernseher aus, oft auch alle Lichter. Stattdessen zünden sie eine Kerze an und stellen diese auf das Fensterbrett.
Zitat
Wenn ich nach dem Warum frage, sagt mein Vater, alle weigern sich fernzusehen, weil da nur Lügen verbreitet werden. Das ist eine Form des stillen Protestes. Sie können uns zu vielem zwingen. Zum Fernsehen aber nicht! Wir haben die Wahl und wir wählen, ihnen nicht mehr zuzuhören.
Manche Männer heften sich einen elektrischen Widerstand an ihren Jackenaufschlag, um stumm zu protestieren. "Solidarnosc" ist auf dem letzten Bild dieser Graphic Novel zu sehen. Und dazu die Forderung des Volkes: "Wir wollen ein normales und würdevolles Leben!!! Verlangen wir zuviel?"
Bild vom Zusammenbruch des Ostblocks
Die entzückende Graphic Novel "Marzi" erzählt nicht nur Kindheitserinnerungen mit all den Träumen, Freuden, Ängsten und Phantasien, die wohl überall zu finden sind, sondern ist auch ein leicht zugängliches und verständliches Zeitzeugnis vom Zusammenbruch des Ostblocks. Die Farbskala ist dabei angenehm reduziert: Grautöne dominieren, Braun- und Rottöne ergänzen das Bild. So schafft Zeichner Sylvain Savoia eine gelungene Atmosphäre, die zwar monoton, aber in sich stimmig und nie langweilig wirkt. Jede Seite ist streng in 6 Pannels, also Bilder, eingeteilt, die sehr textlastig sind.
"Marzi" erinnert durchaus an Marjana Satrapies "Persepolis". Darin erzählt Satrapies ihre Kindheit im Iran während der islamischen Revolution. Wie "Persepolis" ist auch "Marzi" ein gelungenes Beispiel für einen autobiographischen Comic, der es nicht nur wegen seiner Geschichte, sondern auch wegen seiner Zeichnungen unbedingt wert ist, gelesen zu werden.
"Marzi" wurde unter der Kategorie "Best Reality-Based Work" für den Eisner Award nominiert, einen der wichtigsten amerikanischen Comicpreise.
Service
Marzena Sowa und Sylvain Savoia: "Marzi", Übersetzt von Michael Leimer, Panini Comics
Panini Comics - Marzi