Stephen Greenblatt über die Anfänge der Renaissance

Die Wende

Eines kann man Stephen Greenblatt nicht vorwerfen: Dass er sein Buch "Die Wende“ nicht gründlich konzipiert hätte. Die erste Faszination mit dem Thema Renaissance reicht in die Studentenzeit des Historikers zurück.

De rerum natura

"Ich bin früher zu Ende des Studienjahres immer in die Buchhandlung gegangen. Denn da haben sie Bücher, die sie loswerden wollten, für ganz wenig Geld angeboten", erzählt Greenblatt. Und genau dort entdeckte er ein Buch mit dem Titel "Von der Natur": "Ich hatte davon noch nie gehört. Das Cover gefiel mir sehr gut. Es war ein Detail eines surrealistischen Gemäldes von Max Ernst. - Ich mochte das Bild. Ich mochte den Buchumschlag. Und es kostete nur zehn Cent. Über den Sommer hab ich dann darin geblättert und war, zu meiner großen Überraschung, völlig fasziniert. Der Text hat mich angeregt und bewegt und mich eigentlich mein ganzes Leben lang beschäftigt."

"De rerum natura”, also "Von der Natur”, ist ein 2.000 Jahre altes, didaktisches Gedicht des römischen Dichters und Philosophen Lukrez. Indem dieses Buch den Harvard-Studenten so faszinierte, veränderte es in gewisser Weise sein Leben. Denn sonst hätte er heuer nicht den Pulitzer-Preis bekommen. Und das für ein Buch über ein Buch, das – so der Autor – nicht mehr und nicht weniger als die Welt veränderte. Denn es wurde 1417, also in einer bemerkenswert repressiven, gottesfürchtigen und lustfeindlichen Zeit wiederentdeckt. Ein Echo aus einer freieren Vergangenheit.

Der Gedanke vom Atom

"Zwei Dinge sind mir bei meiner Lektüre damals aufgefallen: Mir war nicht klar gewesen, dass in der Antike bereits eine sehr durchdachte Theorie des Universums existiert hatte; dass es nämlich aus einer unendlichen Anzahl von unsichtbaren Partikeln bestand. Die Griechen nannten diese Atome. Mir war nicht bewusst gewesen, wie alt der Gedanke vom Atom eigentlich ist", sagt Stephen Greenblatt, "Und noch etwas hat mich sehr berührt: nämlich eine Botschaft in diesem Buch, die vermutlich in der Antike mindestens so wichtig war wie die Überlegungen zur Physik. Und das waren Ratschläge, wie man leben soll. Lukrez war ein Anhänger des griechischen Philosophen Epikur. Ihm zufolge war es möglich, durch diese Art und Weise über das Universum zu denken, ein besseres Leben zu führen; vor allem eines, das mit mehr Freude und weniger Angst verbunden war. Genauer gesagt: Mit weniger Angst vor dem Tod."

Dass De rerum natura nicht, wie so viele antike Manuskripte verloren ging, ist einem gewissen Poggio Bracciolini zu verdanken. Der nach der Absetzung seines Dienstherren, des Gegenpapstes Johannes XXIII., arbeitslos gewordene päpstliche Sekretär reiste durch Deutschland und Frankreich. In Klöstern suchte er nach antiken Texten. Das, so Stephen Greenblatt, war damals eine italienische Leidenschaft. Und die geht auf den Dichter Francesco Petrarca zurück: "Es hatte mit seiner Einstellung zu seiner Zeit zu tun. Petrarca hatte das Gefühl, er lebte in einer Zeit von Chaos, Barbarei und Unwissenheit. Er glaubte, dass es einmal eine besser Zeit gegeben hat; und dass Menschen damals ein besseres Leben geführt hatten. Er wurde besessen vom Gedanken, die Spuren dieser Vergangenheit zu entdecken. Und diese Faszination vererbte er an die nachfolgenden Generationen. Das heißt: Nach Petrarca gab es andere, wie eben Poggio Bracciolini, die mit der gleichen Besessenheit nach Spuren und Texten der klassischen Vergangenheit suchten."

Die Rückkehr des sexuellen Erwachens

Poggio Bracciolini entdeckte "De rerum natura" vermutlich in einem Kloster in Fulda. Er rettete jedoch nicht nur Lukrez für die Nachwelt. Er entdeckte auch Manuskripte des römischen Architekten und Ingenieurs Vetruvius sowie die Gesamtausgabe des Rhethorikers Quintilian. Das Verdienst von Bücherjägern wie Poggio Bracciolini sei unschätzbar, erklärt Stephen Greenblatt. Denn wie leicht konnten damals Manuskripte verloren gehen. Werke existierten nur in wenigen Ausgaben. Alles was es brauchte, war ein Brand in einer Klosterbibliothek.

"Von der Natur" war freilich kein Bestseller. Doch es wurde in intellektuellen und der Kunst zugewandten Kreisen herumgereicht. Der subtil subversive Einfluss des Buches sei in vielen Kunstwerken der Renaissance spürbar, erklärt der Autor: "Ein frühes Beispiel, das jeder, der jemals in Florenz war, kennt, ist Botticellis Primavera. Dieses großartige Gemälde entsprang der Inspiration durch Verse von Lukrez, die erst kurz zuvor entdeckt worden waren. Es ist aber nicht nur der bildlich dargestellte Inhalt der Zeilen über Venus und den Frühling. Das Gemälde fängt auch den heidnischen Geist des Textes ein; die Rückkehr eines sexuellen Erwachens. Das ist etwas, das sicherlich auf dem Gedicht von Lukrez beruht. Aber es gibt noch andere Beispiele dafür, wie einflussreich das Gedicht war. Mein Lieblingsbeispiel ist der französische Schriftsteller Montaigne. Sein Exemplar von "De rerum natura" ist erhalten geblieben. Das Buch strotzt nur so vor Anmerkungen, die beweisen, wie fasziniert Montaigne von dem Text war. Und wie sehr er ihn als Befreiung von dem erdrückenden religiösen Dogma empfunden hat."

Die Experimente der Natur

Bleibt eigentlich nur noch die hypothetische Frage: Und was wäre, wenn die einzigen Kopien von "De rerum natura" tatsächlich verloren gegangen oder in Flammen aufgegangen wären? Hätte es keine Renaissance gegeben? Würde die Welt heute anders aussehen?

Letztlich hätte sich die Welt auch ohne Lukrez recht ähnlich entwickelt, davon ist der Autor überzeugt: "Doch man hätte andere Wege beschreiten müssen, um zu verstehen, dass es beispielsweise keinen Schöpfer oder Designer des Universums gibt; dass alles durch willkürliche Bewegung von Atomen entsteht; dass die Natur nie zu experimentieren aufhört; dass es schon vor dem Menschen Lebewesen auf der Erde gab; dass die Seele stirbt und dass es keine Nachwelt gibt; dass das oberste Ziel Befriedigung und Erfüllung ist. Wären andere ohne Lukrez draufgekommen? Das will ich doch sehr hoffen. Aber eines ist sicher: Lukrez war in der Verbreitung dieser Gedanken ganz besonders wichtig."

Text: Madeleine Amberger

Service

Siedler Verlag - Die Wende