Anna Kim: "Anatomie einer Nacht"

Wenn Grönland in den Schlagzeilen ist, dann geht es meist um die Themen Walfang, Bodenschätze oder Klimawandel. Wie die Menschen auf der größten Insel der Erde leben, davon weiß man nur wenig. Die österreichische Autorin Anna Kim hat an Ort und Stelle recherchiert: Nach einem Grönland-Essay im Vorjahr hat die 35-jährige gebürtige Südkoreanerin jetzt den Grönland-Roman "Anatomie einer Nacht" herausgebracht, ein Roman, der von einem unerhörten und realen Ereignis ausgeht.

Morgenjournal, 4.10.2012

Im Sommer 2008 nahmen sich in einer kleinen Stadt im verarmten und weitgehend isolierten Osten Grönlands in einer einzigen Nacht elf Menschen das Leben. "Die Selbstmorde geschahen innerhalb von fünf Stunden, ohne Vorwarnung, ohne Ankündigung, ohne Abmachung. Das Sterben breitete sich seuchenartig aus, die Opfer schienen sich nur durch eine Berührung oder durch einen Blick infiziert zu haben - im Nachhinein sprach man von einer Krankheit" - so beginnt Anna Kims Roman "Anatomie einer Nacht".

In kaum einem Land der Welt ist die Suizidrate so hoch wie in Grönland - das belegt auch eine Studie der grönländischen Gesundheitsbehörde. In Zahlen: 25 Prozent der jungen Frauen und 17 Prozent der jungen Männer haben bereits einen Suizidversuch unternommen
Anna Kim wollte diesem Phänomen auf den Grund gehen. Mehrere Monate in Grönland verbracht und sie hat sich umgehört.

Nach und nach habe sie begriffen, sagt Anna Kim, dass sich hinter dem kollektiven Schweigen die gesamte Problematik Grönlands verbirgt: Das Sprachenproblem Dänisch-Grönländisch, zu wenige Schulen, Alkoholismus, häusliche Gewalt, Kindesmissbrauch und nicht zuletzt die so genannte Modernisierung nach dem Ende der Kolonialzeit 1953. Anstelle der Hütten und Holzhäuser wurden riesige Wohnblocks mit Wohneinheiten von rund 30 Quadratmetern errichtet - ohne Rücksicht auf die auf die traditionellen grönländischen Großfamilien.

Die sozialen Probleme, das Thema Kolonialismus und Identität hat Anna Kim bereits im Vorjahr in einem großen Essay ausgeleuchtet - jetzt lässt sie im Roman in poetisch dichten Bildern die Atmosphäre jenes Ortes erstehen, den sie mit den Worten "Nichts" und "Ende der Welt" skizziert. In fünf Kapiteln erzählt sie die Geschichte jener Nacht im fiktiven Ort Amaraq, in der sich 11 Menschen aus den verschiedensten sozialen Schichten und Altersgruppen erhängen, erschießen, ertränken oder vom Dach stürzen. Verbunden sind ihre Schicksale durch die grönländische Nacht.

Textfassung: Joseph Schimmer