Roman von Reinhard Kaiser-Mühlecker

Roter Flieder

Anlass für heftige Diskussionen bot Vea Kaiser mit ihrem Debütroman "Blasmusikpop", indem das Dorf kein Ort von Unterdrückung ist. Reinhard Kaiser-Mühlecker zeigt in "Roter Flieder" hingegen wie es ist, wenn man wirklich einmal in das Land hineinschaut.

Mehr als 600 Seiten bringt "Roter Flieder" auf die Waage. Davon sollte man sich aber nicht abschrecken lassen, denn schon bald wird klar, dass die Art und Weise, in der der Autor das Thema behandelt, den Umfang auch wirklich trägt.

Im Zentrum der Handlung steht bei Kaiser-Mühlecker eine Innviertler Bauernfamilie. Sie trägt einen für die Gegend typischen Namen, den gleichen übrigens wie ein Skiflugweltmeister und Olympiasieger aus dem Land: Goldberger.

Eine atypische Vertreibung

Über drei Generationen hinweg verfolgt Kaiser-Mühlecker seine Goldberger-Familie, beginnend an einem neuralgischen Punkt mitten im Zweiten Weltkrieg. Mit einer für die damalige Zeit sehr atypische Vertreibung hebt die Erzählung an. Ein Bub rennt durchs Dorf und versucht den anderen schreiend zu sagen, was er gesehen hat: Ein Pferdewerk, bis zum Bersten voll beladen mit Möbeln und Hausrat, auf dem Weg zu einem leerstehenden Hof.

Auf dem Kutschbock sitzt (wie sich bald herausstellt) der alte Goldberger und seine Tochter Martha. Über die Gründe, warum er den Hof der Familie, in einem Dorf nicht allzu weit entfernt, verlassen musste, bietet das Buch eher Anspielungen als Gewissheit. Offenbar hat Goldberger als NS-Ortsgruppenführer in seinem Heimatort ein derartig brutales Regime geführt, dass die Bevölkerung ihn lynchen wollte. Als Fluchtburg bot ihm die Partei daraufhin ein Ausweichquartier an einem neuen Ort an, bei Kaiser-Mühlecker heißt er Rosental.

Sprachlosigkeit oder besser Mundfaulheit

Bald schon hat es den Anschein, als wären die Goldbergischen hier ewig ansässig gewesen. Das liegt auch an der Art und Weise, in der Kaiser-Mühlecker die Geschichte der Familie bis hinein ins 21. Jahrhundert erzählt. Eine spezifische Art von Sprachlosigkeit, in der Gegend selbst nennt man es: Mundfaulheit, liegt über den Personen. Ein umso stärkeres Gewicht kommt dort, wo niemand ein Wort zuviel spricht, den Faktizitäten in ihren gleichsam ewigen Abläufen zu.

Robert Musil hat jenes vielleicht spezifisch oberösterreichische Phlegma einmal so beschrieben: "Irgendeine große Schönheit steckt in diesem Land, aber sie kommt nicht weiter und kratzt sich am Schädel. Die Sonne", so Musil weiter, "blinkt in der Pflugschar, die Kuh brüllt, die Magd geht, ein Apfel fällt vom Baum. Nebeneinander stehen und geschehen die Dinge, die in ihrer Einfachheit die tiefsten sind."

Die sanfte Wucht des Faktischen

Reinhard Kaiser-Mühlecker wurde im Jahr 1982 wurde mitten in Oberösterreich, in Kirchdorf an der Krems, geboren. Wie glänzend er sich auf die literarische Darstellung jener wortkargen und brutalen Einfachheiten der österreichischen Provinz versteht, hat der Autor spätestens in seiner Erzählung "Magdalenaberg" bewiesen.

In dem Roman "Roter Flieder" taucht der nahe Rosental gelegene Ort wieder auf. Noch weniger gekünstelt indes ist jetzt die Sprache des Autors, wie ein Atem der Landschaft schreitet sie einher.

Es ist die sanfte Wucht des Faktischen, die sich in dem Buch auch sprachlich über die Familie Goldberger legt und dem Ablauf der Geschichte jeglichen Spielraum nimmt. Kaiser-Mühleckers literarischer Stil entwickelt seine Inhalte unglaublich langsam und präzise, dabei kommt aber in seinem Buch niemals Langeweile auf.

Ein Fluch, von einer nicht näher ausgeführten Schreckensgeschichte her, lastet über der Familie. Diese ist sich sicher: Bis hinein ins siebte Glied wird sie den Fluch nicht loswerden.

Gewinne und Hoferben

Ähnlich wie in dem Roman "Mittelreich", den der bekannte deutsche Schauspieler Josef Bierbichler vor einem Jahr vorgelegt hat, zieht in Kaiser-Mühleckers Roman das 20. Jahrhundert übers Land, samt der Modernisierungsgewinne, die man dort gemacht hat.

Hoferbe nach dem alten Goldberger wird schon knapp nach 1945 der aus dem Krieg heimgekehrter Sohn Ferdinand, unter ihm prosperiert das Geschäft, die Landwirtschaft wird mechanisiert und es fließen die Gewinne.

In der nächsten Generation treffen wir unter seinen beiden Söhnen auf eine abgemilderte Variante von Kain und Abel. Während Thomas von seinem Vater viel zu früh zum Erben bestimmt wurde, kommt Paul, der komplexesten Figur des Buches, am Hof nur eine periphere Rolle zu. Schließlich geht er als Prediger nach Bolivien. Dort, in dem fernen Land, spielt das vorletzte Kapitel von Kaiser-Mühleckers Buch. Im allerletzten Teil dann hält der Autor noch eine andere Überraschung parat, dazu nur soviel: Bei der Kinderlosigkeit, die die Familie Goldberger vermeintlich verfolgt, wird es nicht bleiben.

Unverrückbare Überzeugungen

Nicht sonderlich eindrücklich ist der Titel von Kaiser-Mühleckers Buch. Im "Roten Flieder" aber finden alle Angehörigen der Familie Goldberger ein Symbol für ihre Heimat. Dazu gehört auch, dass der Rote Flieder, den sie vor ihren Häusern pflanzen und den sie sich immer wieder besehen, eigentlich gar nicht rot ist, sondern er ihnen nur in dieser Farbe erscheint.

Auf Wahrnehmungsverschiebungen wie dieser gründen in dem Buch "Roter Flieder" alle unverrückbaren Überzeugungen. Heimat ist eine Zwangsvorstellung, die man nicht los wird, solange man an sie glaubt.

Service

Reinhard Kaiser-Mühlecker, "Roter Flieder", Hoffmann und Campe 2012