Ein Roman von Richard Ford
Kanada
Wer beim Buchhändler seines Vertrauens zu Richard Fords neuem Roman greift, kauft ein großes Versprechen: ein aufreizend schönes Cover, ein verheißungsvoller Titel und ein gewichtig in der Hand liegender 460-Seiten-Band.
8. April 2017, 21:58
Der Roman selbst löst die Erwartungshaltungen, die er weckt, bedauerlicherweise nur zum Teil ein. Richard Ford läßt sich Zeit, um seinen Plot zu entwickeln, viel Zeit. Er erzählt von Dell Parsons und seiner Zwillingsschwester Berner, die als Kinder einer prekarisierten Mittelschicht-Familie in Great Falls, Montana, aufwachsen.
Wir schreiben das Jahr 1960, und die Zwillinge, beide fünfzehn, schlagen sich mit den üblichen Pubertierenden-Problemen herum.
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"Mit Berner war inzwischen wirklich nicht gut Kirschen essen. Sie hockte die meiste Zeit in ihrem Zimmer, las Kinozeitschriften und Bücher wie 'Bonjour Tristesse'. Sie schaute den Fischen im Aquarium zu und hörte Musik im Radio und hatte keine Freunde - was auch für mich galt... Berner und ich waren zweieiige Zwillinge - sie war sechs Minuten älter - und sahen uns überhaupt nicht ähnlich. Sie war groß, knochig, unbeholfen und von Sommersprossen übersät, sie hatte Warzen auf den Fingern, blasse, graugrüne Augen wie unsere Mutter und ich und Pickel und ein flaches Gesicht und ein weiches Kinn, das nicht hübsch war."
Wie für jedes seiner Bücher hat Richard Ford auch für "Kanada" intensiv recherchiert, er hat die Gegend um Great Falls erkundet, er hat die kanadische Provinz Saskatchewan bereist und ausgedehnte Nachforschungen über alltagshistorische, kriminaltechnische, zeitgeschichtliche Details angestellt.
"Ich hätte nicht den Nerv, ein Buch zu schreiben, dessen Handlung ich mir nicht vorher genau überlegt habe. Ich würde in ein schwarzes Loch fallen, wenn ich planlos ans Schreiben heranginge. Ich kann nur über Dinge schreiben, die ich kenne oder detailliert recherchiert habe. Bevor ich mit der Niederschrift eines Buchs anfange, brauche ich ein Jahr zum Planen und zum Recherchieren. Wenn ich das nicht täte, wüßte ich nicht, wie ich zu schreiben beginnen soll", sagt Richard Ford.
Zwanzig Jahre Vorbereitung
Zwanzig Jahre ist Richard Ford mit seinem jüngsten Roman schwanger gegangen, bis er ihn endlich realisiert hat. Seinen jugendlichen Helden Dell Parsons konfrontiert der Autor nach etwa hundert Seiten mit einem schweren Schicksalsschlag: Dells Vater, Army-Veteran und Sunnyboy aus dem amerikanischen Süden, läßt sich in undurchsichtige Fleischgeschäfte verwickeln.
Als er eines Tags mit einer unerwarteten Schuldforderung konfrontiert wird, sieht er nur noch einen Ausweg. Zusammen mit seiner Frau überfällt Parsons senior eine Filiale der "Agricultural National Bank" in Creekmore, North Dakota. Die Beute ist bescheiden: 2.500 Dollar. Das Ehepaar wird gefasst und kommt hinter Gitter. Die Mutter begeht Selbstmord, ihren Vater sehen die Geschwister, die allein im Elternhaus zurückbleiben, nach einem einzigen Gefängnisbesuch nie mehr wieder.
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"Wer zusehen muss, wie die eigenen Eltern in Handschellen abgeführt, Bankräuber geschimpft und ins Gefängnis gebracht werden, und schließlich allein zurückbleibt, könnte darüber durchaus den Verstand verlieren. Er könnte panisch durchs ganze Haus rennen und heulen und sich der Verzweiflung anheimgeben, weil von nun an nichts mehr in Ordnung ist. Das mag für manch einen zutreffen. Aber niemand weiß, wie er in so einer Situation reagiert, bis es passiert. Ich kann nur sagen, das meiste davon fand nicht statt, auch wenn sich natürlich unser Leben für immer veränderte."
"Ich war an Grenzen interessiert. Es interessiert mich einfach, wie wir Grenzen überschreiten: psychische Grenzen, moralische Grenzen, nationale Grenzen. Und dann blicken wir zurück und denken darüber nach, wie wir wieder zurückkommen können. Das war es, was mich interessiert hat", meint Richard Ford.
Richard Fords Roman umfasst drei Teile. Im zweiten Teil finden wir Dell Parsons, den 15jährigen, in Kanada wieder, konkret in der Prärieprovinz Saskatchewan. Seine Schwester hat sich nach Kalifornien abgesetzt, Dell findet auf der Flucht vor dem Jugendamt Schutz und Obdach beim Bruder einer Freundin seiner Mutter. Dieser Mann, Arthur Remlinger, zieht den Fünfzehnjährigen in kriminelle Machinationen hinein, an deren Ende ein barbarischer Doppelmord steht.
Auch wenn es so klingt: Richard Ford hat keinen rasanten Prärie-Thriller geschrieben, keinen Krimi mit literarischem Anspruch, mit einem Auge schon auf tantiementrächtige Verfilmungen schielend. Nein, "Kanada" handelt von den Traumen und Tragödien des Lebens, es handelt von den Versehrungen, die das Schicksal bisweilen für uns bereithält und vom Widerstandswillen mancher Menschen, die aus ihrem Leben, allen Blessuren und Verwundungen zum Trotz, doch noch etwas machen.
Wie Dell Parsons, den wir im dritten Teil des Romans als rüstigen Mittsechziger kennenlernen, als pensionierten High-School-Lehrer, der auf die traumatischen Ereignisse seiner Jugend mit bedächtiger Distance zurückblickt.
Viele Längen und ein starker Schluß
Auf den letzten Seiten, in einem herzzerreissenden Finale, konfrontiert Richard Ford seinen Ich-Erzähler noch einmal mit der krebskranken Schwester, die er jahrzehntelang aus den Augen verloren hat. Erst hier, im letzten Teil des Romans, in der Begegnung eines gediegenen Mittelschichts-Rentners mit seiner vom Leben gebeutelten, todkranken Schwester, die nach drei gescheiterten Ehen und einer Lymphom-Erkrankung ihrem sicheren Tod entgegenvegetiert, erst hier präsentiert Richard Ford sich auf der Höhe seiner Erzählkunst.
Die ersten 430 Seiten haben, trotz starker Szenen dann und wann, doch beträchtliche Längen. Auch sprachlich wirkt manches lieblos und routiniert zusammengezimmert. Und dann: dieser Schluss.
"Kanada" ist ganz gewiss nicht Richard Fords bestes Buch, was immer die fast schon einhelligen Lobes-Chöre der Literaturkritik insinuieren wollen. Aber ein gutes, ein sehr gutes Buch ist es allemal.
Service
Richard Ford, "Kanada", aus dem Englischen von Frank Heibert, Hanser-Berlin