Ein Roman von Ursula Krechel

Landgericht

"Er war angekommen. Angekommen, aber wo." Zwei kurze Sätze stoßen eine Türe auf: Dahinter liegt das Deutschland des Frühjahrs 1948. Richard Kornitzer, ein jüdischer Jurist, der sich in Kuba vor dem Naziterror in Sicherheit gebracht hat, kehrt heim.

Seine Frau hat ihn gesucht und gefunden, ihretwegen und in der Hoffnung auf ein Wiedersehen mit seinen beiden Kindern traut er sich in jenes Land zurück, das ihm alles genommen hat: seinen Beruf, seinen Besitz, seine Familie, die Selbstverständlichkeit seines Daseins. Und nun - was nun?

"Landgericht" heißt der zweite Roman von Ursula Krechel. Eine spannende Abrechnung mit den Nachkriegsjahren, der Zeit des Aufräumens und des Neubeginns. Eine Zeit aber auch, in der ein Staat mit sich und seiner Vergangenheit ins Gericht geht und daran ein gutes Stück weit scheitert.

Schwieriger Umgang mit der Vergangenheit

Das spürt auch Richard Kornitzer bei seiner Rückkehr, als er sich um einen seiner Ausbildung entsprechenden Arbeitsplatz bemüht. Vor seinem durch die Nürnberger Rassengesetze erzwungenen Ruhestand war er Beamter, als solcher pocht er auf seine Rechte: Man möge ihn neuerlich in den öffentlichen Dienst aufnehmen, bittet er.

Dem wird stattgegeben und Richard am Landgericht Mainz vereidigt. Eine erste Enttäuschung, weil er sich lieber an einem Platz gesehen hätte, wo er mit Fällen von Wiedergutmachung begangenen Unrechts beschäftigt gewesen wäre. Doch dafür gilt er, der Remigrant, als zu befangen. So einen wie ihn will man an möglichst unverfänglicher Stelle wirken sehen.

Schleppende Entnazifizierung

Vorerst geht´s ums Überleben. Richard hofft, an einem neuen Deutschland mit bauen zu können. An einer jungen Demokratie und einem Staat, der sich gewandelt aus der Diktatur erheben würde. Doch bald schon spürt er, dass die Entnazifizierung nur schleppend vorankommt.

Schlupflöcher tun sich auf und mit ihnen auch eine windige Rechtsprechung. Sie entlastet viele der früheren Täter und bringt sie in jene Positionen zurück, die sie schon während der NS-Zeit innegehabt haben.

Der Wiederaufbau eines Staates

Ursula Krechels Entscheidung, ihrer Hauptfigur das Richteramt auf den Leib zu schreiben, erweist sich bei einem Thema wie diesem als sehr klug und weitsichtig. Natürlich wissen wir inzwischen, wie hartnäckig die Bemühungen Deutschlands und auch Österreichs waren, die Vergangenheit vom Tisch zu fegen und unter den Teppich zu kehren und jenen voller Misstrauen zu begegnen, die die Verfolgung überlebt haben oder aus der Emigration in ihre Heimat zurückgegangen sind.

Mit Hilfe dieses Richard Kornitzer hat Krechel die Möglichkeit, den schwierigen Wiederaufbau eines Staates konkret werden zu lassen, ohne damit den Ablauf des Romans zu stören. Richard ist keiner, der sich schnell zufrieden gibt. Und so beobachtet er mit ziemlicher Verbitterung, wie man seine Karriere zu bremsen und die Laufbahn anderer, politisch höchst fragwürdiger Kollegen zu befördern sucht. Zudem spürt er den Antisemitismus jener Tage besonders schmerzhaft: Was waren die Jahre des Exils im prall-bunten Havanna im Vergleich zum Alltag mit Hunger, Angst und Bombenangriffen? Richard grämt sich angesichts dieser Haltung vieler Bürger. Darüber kann ihn auch die Rückkehr ins eheliche Leben nicht hinwegtrösten.

Eine entfremdete Familie

Seine Frau Claire und er haben sich sieben Jahre lang nicht gesehen, als sie wieder aufeinandertreffen und an ihre früheren Gefühle anknüpfen. Beide haben inzwischen viel erlebt, das Schweigen und Verschweigen legt sich wie eine Last auf das Paar.

Claire weiß wenig von Richards Leben in Havanna, wo er in einer Anwaltskanzlei Hilfsdienste verrichtet hat. Mit schlechtem Gewissen ist er damals ein Verhältnis mit einer Kubanerin eingegangen und Vater einer Tochter geworden. Umgekehrt mag Claire ihrem Mann die Schilderungen der Schikanen, denen sie als Ehefrau eines Juden ausgesetzt war, nicht in allen Details zumuten.

Über manches wollen die beiden nicht sprechen, die Gegenwart ist quälend genug. Richard und Claire haben ihre in Berlin geborenen Kinder in England in Sicherheit gebracht, um deren Leben zu retten. Als sich die Familie fast zehn Jahre später wiedertrifft, stehen sich Fremde gegenüber. Die Distanz bleibt trennend.

Altmodisch im guten Sinn

Ursula Krechels Roman lässt uns teilhaben an all diesen Irritationen und Verstörungen und entwirft ein ziemlich breites Panorama der Nachkriegszeit. In seinem Zentrum die Beschreibung der späten vierziger und die fünfziger Jahre, darum gruppiert der Beginn des Naziterrors, Richards Flucht und später das Altern des Ehepaares Kornitzer.

Der Band gibt sich ganz im Stil jener Tage des Neuanfangs: Auf dem Cover das Foto eines Gerichtssaal aus den Tagen der jungen Bundesrepublik, das Format des Bandes an ein juristisches Handbuch jener Jahre erinnernd, das Layout ohne jeden Schnörkel. Die Optik orientiert sich am Inhalt und Ton des Buches.

Krechels Roman kommt fast ein wenig altmodisch daher, im guten Sinn. Die dreizehn Kapitel sind atmosphärisch dicht gestaltet und in einer Sprache gehalten, die sich zurückhält und dafür die Ereignisse umso dringlicher sprechen lässt. Juristische Zitate sind sparsam, aber effizient in den Text gesetzt, ab und zu ein lyrisches Einsprengsel, oft ist es nur ein Wort oder die Wortstellung, hin und wieder auch ein Bild. Manche dieser Mittel wirken manieriert und wollen sich nicht recht ins Ganze fügen.

"Er war bei sich und ganz weit weg"

Dieser Richard Kornitzer ist ein Mann mit glasklarem Verstand und einer geradlinigen Formulierungsgabe in Urteilen und Anträgen. Je älter er wird, umso wichtiger wird es ihm, um sein Hab und Gut zu kämpfen, das ihm die Nazis geraubt haben. Er wird mehrfach abgewiesen, muss sich rechtfertigen und demütigen lassen. Das kränkt und macht krank. Die inneren Verletzungen können nicht vernarben.

"Er war bei sich und ganz weit weg", heißt es über Richard Kornitzer. Das Dazwischenstehen, das Wissen darum, dass man nie mehr ganz in sich wohnen wird und schon gar nicht an jenem Platz, an den man zurückgekehrt ist: Auch darum kreist Ursula Krechels Roman. Er schließt eine Lücke in der Literatur.

Service

Ursula Krechel, "Landgericht", Jung und Jung