Bibelkommentar zu Markus 10, 35 - 45

Die Stelle aus dem Markusevangelium, die an diesem Sonntag in den katholischen Kirchen gelesen wird, erzählt von einer alten und bis heute gültigen Wahrheit.

Es gibt Jahrhunderte alte Wahrheiten, die nichts an Aktualität verlieren und wohl noch Jahrhunderte gelten. Eine davon lautet: Macht korrumpiert. Nicht selten habe ich beobachtet, wie Menschen sich mit der Zeit verändern, wenn sie Machtpositionen innehaben. Freunde werden immer unnahbarer, abgehobener, kritikresistenter.

Manchmal habe ich selbst in meiner kleinen Machtposition als Universitätsprofessor und Institutsvorstand Angst, die Bodenhaftung zu verlieren oder ertappe mich dabei, nicht um einer Sache willen, sondern um der Anerkennung willen zu arbeiten, Kontakte zu knüpfen, die mir Zugang zu wichtigen Menschen oder Einfluss ermöglichen.
Ich weiß nicht, ob es ein Trost ist, dass auch zwei der engsten Jünger Jesu mit derselben Versuchung kämpften. Sie wollten gleich neben dem Chef in einer Reihe sitzen, unübersehbar für alle Welt, die einen Blick auf den Meister wirft.

Dabei sollte man das Ansinnen nicht übel nehmen. Mir sind ehrlich gesagt jene Menschen lieber, die bereit sind, im Rampenlicht Verantwortung zu übernehmen als jene, die gerne im Hintergrund einflüstern und nicht selten fast im wörtlichen Sinn jemandem in den Rücken fallen. Die Zebedäussöhne sind mir sympathisch, weil sie unmissverständlich erklären, dass sie nicht nur bei Sonnenschein an der Seite ihres Meisters sein wollen, sondern auch in schweren Zeiten sich nicht von ihm distanzieren. Umso ernüchternder muss es für sie gewesen sein, dass Jesus selbst ihnen zwar das Leiden ankündigt, aber keinerlei Zugeständnisse auf einen Ehrenplatz an seiner Seite gibt. Manchmal überrascht es mich, mit welcher Klarheit und Direktheit Jesus als jemand geschildert wird, der die harte und schmerzliche Konsequenz aufzeigt, in seiner Nachfolge zu leben. Offen gestanden habe ich das nie geschafft, ein Christ in diesem Sinne zu sein.

Wer die Botschaft ernst nimmt, muss zur Kenntnis nehmen, dass Macht und Ruhm das Gegenteil von dem ist, was Jesus den Menschen anbietet. Nicht bedient werden sondern dienen. Das ist heute so unbequem wie zu aller Zeit, sowohl in der Gesellschaft, im Geschäftsleben als auch in den religiösen Gemeinschaften. Heute, in einer neoliberalen Gesellschaft, in der das Recht des Stärkeren, des geschäftlich Erfolgreichen, des Durchsetzungsfähigen, des Alphatieres, zum höchsten Gut gehört, wird Dienen bestenfalls von den einfachen, in Prekarität lebenden Arbeiterinnen und Arbeitern erwartet. Jeden Job annehmen, flexibel sein, für Hungerlohn ums Überleben kämpfen ist inzwischen auch in unserem Land für viele Realität. In leider großen Teilen der Welt trifft das Wort zu: Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Die Unterdrückung ist manchmal offen, noch öfter subtil und unterschwellig. Wenn in einigen Ländern Menschen für kritische Meinungen ins Gefängnis gesteckt werden, geschieht andernorts die Machtausübung subtiler, durch Mobbing, Verweigerung von Unterstützung, Ausbeutung von Arbeitskraft.

Um es ganz klar zu sagen: Wenn Jesus vom Dienen spricht, meint er meines Erachtens damit nicht Kuschen, nicht alles bis zum Burnout schlucken. Seine Rede richtet sich nicht an die Kleinen, die Bescheidenen, sondern genau an jene, die nach Macht, nach Einfluss streben, die nach oben strampeln und – in der Folge leider oft – nach unten treten. Ich nehme dieses Wort ganz persönlich ernst. Für mich heißt es: Ich sollte mich weniger darum kümmern, eine einflussreiche Persönlichkeit zu werden, Applaus zu bekommen, weniger darauf achten, wie meine Wirkung ist, als darauf, was ich für eine Gesellschaft, in der ich gerne leben möchte, auf der einfachsten Ebene tun kann. Verzicht auf Macht ist das Gegenteil von Ohnmacht, es ist die bewusste Entscheidung zu einer Haltung, in der man den anderen Menschen wirklich ernst nimmt und ihm auf Augenhöhe begegnet. Das scheint noch nicht viel zu sein, aber es ist ein Anfang.