Französische Geschichte, erzählt von Alexis Jenni
Die französische Kunst des Krieges
Das Buch war in Frankreich die Überraschung des Literaturherbstes 2011: Alexis Jennis Erstlingsroman "Die französische Kunst des Krieges" erhielt den Prix Goncourt, den wichtigsten Literaturpreis des Landes. Nun liegt das über 700 Seiten starke Opus in deutscher Übersetzung vor.
8. April 2017, 21:58
Mittagsjournal, 22.10.2012
Die Hauptfigur des für Frankreich heute so wichtigen Romans ist eine, wie es sie im Land zehntausendfach gab: Anfang der 40er-Jahre, mit nicht mal 20, war der inzwischen fast 80-jährige Salagnon im Widerstand gegen die Nazis, danach aus der Bahn geworfen, und als Berufssoldat erst in Indochina und unmittelbar danach in Algerien eingesetzt, in den schmutzigen Kolonialkriegen, in denen mit Mitteln und Methoden gearbeitet wurde, unter denen die Franzosen nur wenige Jahre zuvor während der Besatzung durch die Nazis selbst gelitten hatten.
Jennis Roman macht erlebbar, wie die Frustration über die verlorenen Kolonialkriege in Frankreich bis heute nachwirkt und ein Grund für den latenten Rassismus ist. Salagnon, kultiviert und ein begnadeter Tuschezeichner, lebt abgeklärt und weitgehend anonym in einer der Trabantenstädte von Lyon, wo die soziale Krise brodelt und das Zusammenleben der Franzosen unterschiedlichster Herkunft regelmässig von Spannungen begleitet ist.
"Wir haben große Schwierigkeiten, unsere gewaltsame und blutige Geschichte zu erzählen oder wir erzählen sie schlecht", meint Alexis Jenni. "Es ist, als gäbe es ein Tabu, die Geschichte ist nicht erzählt. Ich wollte diese Erzählung der Jahre 1940 bis 60 liefern; was war passiert, was haben die Menschen erlebt? Die Bruchstücke dieser Erzählung sind in den Erinnerungen vieler Franzosen sehr präsent, ich habe versucht diese Bruchstücke zusammenzufügen."
Einen Nerv getroffen
Jenni hat mit seinem umfassenden Roman auch einen Beitrag zur in den letzten Jahren immer bemühten Diskussion über die französische Identität geleistet, dem Leser mit der Vita seiner Hauptfigur Salagnon vor Augen geführt, dass die lange und schmerzvolle Geschichte des französischen Kolonialreichs, über die regelmäßig ein Mantel des Schweigens gehüllt wurde, im heutigen Leben Frankreichs zwangsläufig seine Spuren hinterlassen musste.
"Ich habe versucht, unsere komplizierten Beziehungen mit dem französischen Kolonialreich und mit dem daraus resultierenden Anderswo zu erzählen, die wir seit eineinhalb Jahrhunderten haben und die Teil unserer Geschichte sind", so Jenni. "Diese Geschichte scheint plötzlich ein Problem zu sein. Das heißt, die französische Identität wurde definiert als etwas Frankreich zentriertes, ländliches und katholisches, ist inzwischen aber eine andere, auch auf Grund der Kolonien und der Bevölkerung aus dem ehemaligen Kolonialreich, auch auf Grund eines Wertewandels in der Bevölkerung, und wir müssen unsere Identität neu erfinden."
Veteranen der Kolonialkriege und Jungfaschisten, die gelegentlich im Vorort bei Salognon, der Hauptfigur des Romans, auftauchen, denken nicht daran, sie rüsten zum Verteidigungskampf gegen die mutmaßliche Invasion des Anderen, des Fremden. Bei Salognon dürfen sie nur erscheinen, wenn dessen Frau Eurydike nicht zu Hause ist - sie, die Tochter einer aus Griechenland stammenden, nach Algerien eingewanderten spagnolisch jüdischen Familie, hat Salognon, während der Schlacht von Algier, einst aus dem Tumult gerettet und nie mehr verlassen.
Wer über Frankreichs multikulturelle Gesellschaft und die nicht wegzudiskutierenden Spannungen darin, verbunden mit der Kolonialgeschichte des Landes etwas erfahren möchte, der wird dieses Epos über ein halbes Jahrhundert französischer Nachkriegszeit, die weit mehr, als man gemeinhin annimmt, vom nicht offiziell deklarierten 20-jährigen Kolonialkrieg geprägt ist, so schnell nicht aus der Hand legen.
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Luchterhand - Die französische Kunst des Krieges