Hörspiel von Alfred J. Noll

Kannitz

Es ist das Gemeinsame, das die beiden Herren trennt. Beide sind Juristen. Präsident des Verwaltungsgerichtshof der eine, erfolgreicher Rechtsanwalt der andere. Und während der eine, Dr. Kannitz, kleinlich an den Buchstaben des Gesetzes klebt, …

… interpretiert der andere, der großbürgerliche und kunstsinnige jüdische Rechtsanwalt Dr. Isidor Hoffer, das Recht als formbare Masse. Schließlich sei der "Rechtsbruch", sagt Hoffer, der "Motor einer jeden Entwicklung".

Als Hoffer am Vorabend des Anschlusses Österreichs an Hitlerdeutschland das Land verlässt, überantwortet er sein gesamtes Vermögen treuhändig dem pflichtbewussten und mittlerweile pensionierten Kannitz. "Glauben Sie mir", sagt Hoffer, "Sie sind der richtige Mann dafür. Sie können gar nichts falsch machen, Sie sind nicht in der Lage dazu."

... Ich kann Sie ja nicht zwingen, ...

Wenig später kommt Hoffer bei einem Schiffsunglück ums Leben. Da keine Erben auszumachen sind, fällt das gesamte jüdische Vermögen an den gesetzestreuen pensionierten Beamten. Als dieser schließlich hochbetagt stirbt, erbt die neu erstandene Republik Österreich jede Menge Kunst, Villen, Hotels und Grundbesitz im Gegenwert von ca. 100 Millionen Schilling. "Wie sehr", wird Kannitz am Ende seines Lebens sagen, "wie sehr lag ich mit meiner juristischen Tätigkeit im Irrtum. Als ich noch glaubte, dass es stets etwas eindeutig Richtiges und etwas eindeutig Falsches gibt."

Der Rechtsanwalt, Universitätsdozent, Restitutionsexperte und Publizist Alfred J. Noll hat mit "Kannitz" eine Parabel in Romanform vorgelegt, wie sie österreichischer kaum sein könnte.