Roman von Alain Claude Sulzer

Aus den Fugen

Marek Olsberg ist ein gefeierter Klaviervirtuose. Seit dreißig Jahren reist er um die Welt, tritt in der Carnegie Hall und im Wiener Musikverein auf, spielt Schuberts G-Dur-Sonate, Beethovens Diabelli-Variationen und als Zugabe gerne ein Nocturne von Chopin.

Im Gepäck: nicht viel, nur ein Stapel "Wachstuchhefte", in denen der Pianist fein säuberlich Buch führt über sein musikalisches Repertoire, also sein Leben. Man muss sich Olsberg als einen Menschen vorstellen, der die Leidenschaft zu den Menschen aufgegeben hat zugunsten einer weniger störanfälligen Liebe: der zur Musik.

Nun soll Olsberg in Berlin auftreten, alles soll nach den üblichen Regeln ablaufen. Nach dem Konzert ist ein Empfang in der großbürgerlichen Villa einer Mäzenin geplant, die Gästeliste liest sich wie das Who is Who der deutschen Hauptstadt: vom regierenden Bürgermeister angefangen, über Politiker, wichtige Kulturschaffende und einige handverlesene Gäste bis hin zu Sir Simon und seiner bezaubernden Gattin fehlt niemand. Doch nicht nur in der Potsdamer Villa, auch andernorts laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren.

Beziehungsgeflecht

Alain Claude Sulzer konstruiert auf den ersten 50 Seiten ein Beziehungsgeflecht aus Personen, die alle im engeren oder weiteren Zusammenhang mit dem Auftritt des Star-Pianisten zu tun haben: zwei Freundinnen, Mitte fünfzig, mit Konzertabo, einander in eifersüchtigem Neid zugetan. Eine nach der Scheidung ins Schleudern geratene Frau mit notorischem Alkoholproblem und deren coole Nichte. Der Musik-Agent und sein junger Lover, der recht bald aus der Rolle des bloßen Dekorstücks ausbrechen wird. Ein verheirateter Werbemanager und seine Escort-Lady, ein junger Kellner vom Catering Service und Astrid Maurer, Olsbergs selbstlose Assistentin mit chronischer Migräne.

Sie alle wissen nicht, dass es an diesem Abend ganz anders kommen wird, dass Marek Olsberg mitten in einer atemberaubenden Interpretation der Hammerklaviersonate den Klavierdeckel schließen und mit den Worten "Das war's dann" die Bühne verlassen wird.

Studien der Wohlstandsverwahrlosung

Die Figuren, die der Autor vorführt, sind alle mehr oder weniger gut situiert oder zumindest materiell abgesichert. Kaputt sind sie dennoch, wenn auch nicht immer auf den ersten Blick. Sulzer betreibt wohlige Studien der Wohlstandsverwahrlosung, die er wohl in der Schweiz beobachtet und in Berlin bestätigt gefunden haben mag.

Seit einem halben Jahr hat der Autor einen zweiten Wohnsitz in Berlin. Er ist kein "Berlin-Mitte-Autor", zumindest für diesen Roman hat er sich eher auf das mondäne Berlin konzentriert.

Sulzer ist einer, der gerne Menschen beobachtet und sie noch lieber aufdeckt. Lustvoll zeichnet er bürgerliche Fassaden, nur um sie dann peu à peu einstürzen zu lassen, lässt schicke Figuren auftauchen, um sie dann aufs Perfideste auseinander zu nehmen. Vielleicht ist es ja eine Schweizer Eigenart, die allzu properen Figuren des gesellschaftlichen Lebens gerne einmal näher unter die Lupe zu nehmen? Dort, wo die Diskretion am größten ist, blüht naturgemäß auch die Indiskretion. So, wie Martin Suter jahrelang die "Business Class" aufs Korn nahm, begleiten wir in dem Roman "Aus den Fugen" einen Top-Werbemanager auf sein Hotelzimmer und werden Zeuge seines kunstvoll verlogenen Doppellebens.

Der Schein trügt immer

Alain Claude Sulzer ist kein Mann der schnellen Effekte - er geht mit der Präzision eines Uhrmachers vor. Nicht zufällig war eine Armbanduhr in seinem Vorgänger-Roman "Zur falschen Zeit" der Auslöser für eine dramatische Entdeckung, die freilich erst am Ende eines langen minutiösen Prozesses steht. Bei Sulzer trügt der Schein immer. Auch in seinem zehnten Roman ist der Verrat ein mächtiger Motor, der die Menschen erst zum Äußersten und dann zum Innersten treibt. Egal, ob in homo- oder heterosexuellen Beziehungen - die Lüge ist ein verlässlicher Partner und Sex ein gefährlicher Treibstoff.

So entspinnt sich also rund um die Hauptfigur, den Pianisten Marek Olsberg, ein Schnitzlerscher Reigen, dessen Personal sich im Laufe der Geschichte auf überraschende Wendungen gefasst machen muss, genauso wie der Leser. Dabei ist der Pianist gerade nicht der Fels in der Brandung, die verlässliche Mitte, sondern der Mann, der mit seinem unorthodoxen Verhalten erst das Gefüge, auf das sich alle verlassen haben, zum Einsturz bringt. Wer käme auch auf die Idee, dass ein Star, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, alles aufgibt, um genau aus dieser Berechenbarkeit zu fliehen?

Sulzer erzählt die Geschichte eines ungewöhnlichen Befreiungsschlages, den sich viele wünschen und die wenigsten erlauben. Freiwillig zu springen, enthebt den Menschen der Angst abzustürzen. Das wird nirgends so deutlich wie in diesem Roman, der das Gefälle zwischen jenen, die erstarrt sind im aussichtslosen Kampf gegen das Altern, im Verharren in einer toten Beziehung oder in der Verbitterung und dem Einen, der sich befreit und für diesen Mut belohnt wird, auf souveräne Weise verdeutlicht.

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Alain Claude Sulzer, "Aus den Fugen", Kiepenheuer und Witsch

Kiepenheuer und Witsch - Aus den Fugen