Annet Gröschner reist gemütlich
Mit der Linie 4 um die Welt
Nicht klassische Touristenrouten, sondern die Fahrpläne der Linie 4 haben Anett Gröschner durch Amsterdam, Alexandria, Wien, Zürich, Shanghai und viele andere Städte geführt - für die deutsche Journalistin und Autorin der beste Weg, um fremde Orte kennenzulernen. Erschienen sind die Reisereportagen jetzt unter dem Titel "Mit der Linie 4 um die Welt".
8. April 2017, 21:58
"Tageskarte, 4 Euro. Entwertung durch den Fahrer/Schaffner, gültig am Tag der Entwertung auf Straßenbahn (Linie 4) und Stadtbus (Linien 1 und 3)" heißt es auf der Naumburger Fahrkarte, die Anett Gröschner am 12. Mai 2012 einlöst. "Wilde Zicke" wurden die ersten Dampfstraßenbahnen im deutschen Naumburg angeblich genannt, etwas sanfter beschreibt Gröschner ihr Bild der Tram.
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In meiner Kindheit fuhren auf der Linie 4 Straßenbahnen, die im thüringischen Gotha hergestellt worden waren. Der Triebwagen war hell und hatte freundliche Augen, eine spitze dunkelgrüne Nase und einen Schmollmund. Abends leuchtete er. Die Tatra-Wagen aus Prag dagegen, die ab 1969 die Gotha-Wagen nach und nach ersetzten und so schwer waren, dass man annehmen musste, sie würden sich allmählich in die Straße eingraben und Magdeburg zu einer U-Bahn verhelfen, waren fett und gemütlich mit ihren breiten Gesichtern und dem ständigen Ächzen und Knacken.
Die 4 muss es sein
Warum Gröschner nur mit der Nummer 4 fährt? Aus Sentimentalität. 4 ist die Linie ihrer Kindheit, die erste Straßenbahn in Magdeburg, mit der Gröschner die Hauptstadt von Sachsen-Anhalt entlang der Elbe erkundet.
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Es waren die Sonntagsausflüge zu den Großeltern in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren. Ich musste nicht hochschauen, das Geräusch erzählte, wo ich mich befand.
Gröschner schreibt über die Straßenbahn in Minsk, die dort die Innenstadt mit ihren Stalin-Bauten umrundet. Über die öffentlichen Verkehrsmittel in Shangai, wo es über tausend Buslinien gibt und die Linie mit der Nummer 4 - für Chinesen eine Unglückszahl - am Rand eines Innenstadtbezirks verkehrt. Gröschner erzählt von der kürzesten und nur sechs Kilometer langen Linie 4 in Amsterdam, in der die Schaffner in neuen Niederflurbahnen in einer Glaskuppel sitzen. Und sie erzählt vom ältesten und einzigen Straßenbahnnetz in Afrika, von den Schienen in Alexandria. Dort gilt zu beachten: Fahrpläne sind sinnlos und die ersten beiden Wagen sind für Frauen reserviert.
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In den Frauenwagen geht es lustig und laut zu, werden Geheimnisse zugeflüstert, über andere gelästert, eben gekaufte Dessous vorgezeigt oder mit Handys gespielt, die meist rosa glitzernde Gehäuse haben und nicht mit Muezzin-Gesängen klingeln, sondern auch mal mit dem frechen Pfeifen aus dem Film "Kill Bill". Oft sind die Gehäuse der Handys farblich auf die Kopftücher abgestimmt, und die knöchellangen Kleider dieser Frauen sind aus kostbaren Stoffen, manche sehr transparent.
Gefährliches Berlin
Gröschner erkundet den asiatischen Teil Istanbuls, sogar in der lauten Millionenmetropole schreibt die Autorin in leisem Ton über die rivalisierenden Fußballclubs Galatasary und Fenerbahce, an dessen Stadion die Nummer 4 vorbeifährt und teilweise so sehr durch den Verkehr schleicht, dass man den Frauen beim Einkaufen zusehen kann. Rasanter geht es in Berlin an der Linie 4 zu.
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Ich renne ihr oft nach, um den Anschluss an die Welt nicht zu verpassen. Ich wäre schon mehrfach fast von ihr zermalmt worden, wenn sie mit hoher Geschwindigkeit an einen der ungesicherten Übergänge der Greifswalder Straße heranraste und ich gerade verträumt mit dem Fahrrad auf den Schienen stand.
Nicht zum Bus rennen - so lautet hingegen Paragraf 1 der Beförderungsbestimmungen der Manhattaner Busunternehmen. Das klassisch mürrische "Aussteigen lassen" wird man in Manhattan auch nicht auf Englisch hören, denn die Wartenden bilden geduldig eine ordentliche Schlange vor der Eingangstür, wenn der Bus in die Station einbiegt.
Eine Bekannte der Autorin erzählt eine nicht alltägliche Anekdote zur Manhattaner Buslinie M4.
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Am Mount-Sinai-Krankenhaus an der 98. Straße bremste der Fahrer abrupt, fuhr den Bus an den Straßenrand, öffnete die Türen und gab durch die Lautsprecheranlage bekannt, dass er eben beschlossen habe, seinen Beruf aufzugeben, und zwar sofort. Er bitte die Fahrgäste auszusteigen und den nächsten Bus zu nehmen. Fahrgäste, die mit Bargeld bezahlt hätten, bekämen die Fahrt von ihm ersetzt. Er soll glücklich ausgeschaut haben, während die Leute im Bus doch etwas verdattert geschaut hätten und dann langsam ausgestiegen seien. Der Busfahrer hatte hinter ihnen sein Fahrzeug abgeschlossen und war davongeschlendert.
Wien zu kurz gekommen
Ein bisschen kurz geraten ist das Kapitel über die Linie 4A in Wien, die Autobuslinie, die zwischen Wittelsbachgasse und Karlsplatz verkehrt, man wünscht sich eine Straßenbahnlinie 4, denn Wien hat mehr als die klassische "Dritte Mann"-Anekdote zu erzählen. Bis auf den Namen der Station "Rasumofskygasse" findet Gröschner wenig Gefallen an dem, was aus der Linie 4 an ihr vorbei zieht.
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Der Bus endet an dem ewigen Provisorium, das Karlsplatz heißt und einer der unwirtlichsten Plätze Europas ist. Umsäumt von Bauzäunen tut das Kunsthallen.Café so, als würde der Blick von der Terrasse aufs Meer gehen. Man hat Sofas und Sitzsäcke auf die Veranda gekarrt - ein Livingroom unter freiem Himmel, wo junge Menschen Designergetränke mit Strohhalmen zu sich nehmen.
"Mit der Linie 4 um die Welt" liefert eine Mischung aus historischen Erzählungen und subjektiven Momentaufnahmen. Während des Lesens glaubt man den Verkehrslärm der verschiedenen 4er-Linien hören zu können, das laute Straßenbahnbimmeln, das Anfahren der Busse, das Rattern des Fahrscheinautomaten und die Gespräche der Fahrgäste, die sich zu einem Einheitsmurmeln verdichten. Trotz Geräuschkulisse ein ruhiges poetisches Reisetagebuch, das Fernweh weckt.
Service
Annet Gröschner, "Mit der Linie 4 um die Welt", Deutsche Verlags Anstalt
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