Kunst und Droge

Den Ich-zerfall, den süßen, tiefersehnten,
Den gibst Du mir: schon ist die Kehle rauh,
Schon ist der fremde Klang an unerwähnten
Gebilden meines Ichs am Unterbau.

Der Ich-Zerfall, der süße, hier von Dr. Gottfried Benn mit poetischer Sensibilität sprachlich skulptiert. Er ist es wohl, der Kunst und Droge so eng zusammenbindet. Sehnsucht nach Entgrenzung, der fremde Klang des Ungehörten, Un-Erhörten. Gegenraum und Gegenwelt, von farbigen Schleiern umweht und mit unentzifferbaren Worten beschlagen. Oder, körperchemischer ausgedrückt: Dopamin-Ausschüttung, bis zum Scheitelpunkt der Ekstase.

Zersprengtes Ich - o aufgetrunkene Schwäre -
Verwehte Fieber - süß zerborstene Wehr -:
Verströme, o verströme Du - gebäre
Blutbäuchig das Entformte her.


Gottfried Benn war nicht gerade der klassische "Giftler", eher ein sensibler Nervenläufer, der die durch die Kunst ohnehin schon gereizte Innenhaut der Außenwelt noch zusätzlich massieren wollte. Exerzitien des Rausches, durchaus im Einklang mit dem Mainstream der Avantgarde seiner Zeit.

Kokain-Literatur der 1920er

Allein mit der Kokain-Literatur der 1920er und 30er Jahre kann man endlose Listen erstellen: von Pitigrillis berühmten "Kokain"-Roman bis zur Johannes R. Becher, der unter dem Pseudonym Dino Segre den Roman "Cocaina Romanzo" veröffentlichte. Von Theodor Pliviers Erzählung "Koka" bis zu Max Brods Buch "Annerl, Roman von Kokain".

Georg Trakl, der symbolistische Rätseldichter, ein multitoxischer Drogenmissbrauchsaktivist, kannte die Wirkungen von Äther, Chloroform, Veronal, Morphium, Opium, Kokain und Meskalin, zudem war er ein maßloser Trinker. Das infernale Chaos von Rhythmen und Bildern, die rauschhaften, exzessiven Farbvisionen in seinen Gedichten sind direkter sprachlicher Abdruck seiner durch Drogen stimulierten Erlebniswelt.

Soweit ein kleiner und zeitlich begrenzter Auszug aus der Fülle an morganatischen Verbindungen zwischen Kunst und Drogen, der sich problemlos in jede Epoche und jedes Genre verlängern lässt. Ernst Ludwig Kirchner und das Morphium, die skandalöse Nackttänzerin Anita Berber und der Cognac - eine Flasche pro Tag, Jean Cocteau und das Opium, später dann der Cut-up-Poet William Burroughs und das Heroin, Henri Michaux und der Peyote-Kaktus. Und welche Substanzen in dem Zaubertrank waren, in den Obelix als Kind gefallen ist, möchte man gar nicht wissen. Kein Künstler im engeren Sinne zwar, doch immerhin ein Meisterchoreograph der physischen Gewalt.

Geradezu sprichwörtlich ist die Verknüpfung von Drogenrausch und Kunst jedoch bei der Musik. Und zwar nicht nur da, wo man es ohnehin erwartet, nämlich bei Rock und Jazz, sondern gelegentlich auch im sorgfältig überwachten Elitegehege der klassischen Musik. Aus einem "Spiegel"-Artikel:

Role Models

Zum Bespiel "Heroin" von Velvet Underground - gewissermaßen der Urtext aller "Sex, Drugs and Rock'n'Roll"-Phantasien der darauffolgenden Jahrzehnte. Und Lou Reed, der düstere Songpoet in der Erbfolge von Rimbaud und den visionären Propheten der Beat-Generation wurde zum Role Model all jener ausgemergelten existenziellen Randgänger mit Gitarre, die glaubten, eine Nadel in der Vene sei ein unverzichtbares Accessoire, wenn man Legendenstatus anstrebe.

Ob sie nun Johnny Thunders hießen oder Sid Vicious, ob Shaun Ryder, Frontman der legendär drogenverseuchten Happy Mondays oder, in jüngerer Zeit, Strokes-Gitarrist Albert Hammond jr., zum coolen Habitus gehören seit jeher auch die coolen Sprüche. So sagte einst Keith Richards, der gern die eine oder andere Saison in der Drogenhölle verbracht hatte: "Ich hatte nie ein Problem mit Drogen. Ich hatte Probleme mit der Polizei."

Oder, noch schöner für Schwarzromantiker, die gerne an den Blumen des Bösen schnuppern: "Ich werde nur krank, wenn ich mit den Drogen aufhöre."

Satchmo mit Reefer

Der Paarlauf von Musik und ungesunden Substanzen mit dem Ziel der rauschhaften Entgrenzung ist jedoch keineswegs eine Erfindung des Rock'n'Roll. Wenn man im Geschichtsbuch ein paar Seiten zurückblättert, findet man schon in der Frühgeschichte des Jazz unzählige Anspielungen auf den Reefer, wie der Marihuana-Joint damals genannt wurde. Auch Louis Armstrong, der jolly good fellow mit den rollenden Augen, war in der Frühzeit seiner Hot Five und Hot Seven ein schwerer Kiffer.

Beim ubiquitären Drogenkonsum in der Musikszene ging es jedoch nicht ausschließlich um die Devise "You gotta say yes to another excess" sondern, vor allem in der afroamerikanischen Community, auch um handfeste gesellschaftliche und ökonomische Probleme. In einem Jazzblog heißt es:

Hier ging es wohl eher weniger um rauschhafte Selbstentgrenzung als um Eskapismus: Heroin als Fluchthelfer aus einer schwer erträglichen Realität. Was einige jedoch missverstanden hatten: Charly Parker war nicht wegen, sondern trotz der Drogen zum größten Saxophonisten des Jazz geworden. Die Vorstellung vom "kontrollierten Drogenkonsum", mit dem sich angeblich die Kreativität steigern lasse, wird von vielen führenden Experten ins Reich der Mythen verwiesen. Im Kielwasser von Charly Parker trieben jedenfalls zahlreiche Saxophonleichen, die den goldenen Schuss dem goldenen Horn vorzogen.

Droge als Bewusstseinsöffner

Der Konsum von Alkohol, Barbituraten, Heroin und Kokain, der die künstlerische Leistung beflügeln sollte, war nur häufig der "Last Exit", hinter dem es keinen Mantel mehr gab und kein Zuhause. Aber neben solchen Elendsszenarien, die sich bis zu den Crack-Dramen und Crystal-Meth-Exzessen der unmittelbaren Vergangenheit und Gegenwart verlängern lassen, gibt es auch eine Geschichte der Droge als Bewusstseinsöffner, vor allem verknüpft mit Halluzinogenen wie Meskalin und LSD und der psychedelischen Kultur, die in den 1960er Jahren das Musik-Erleben transzendierte.

Jimi Hendrix at his most psychedelic: die 3. Seite von "Electric Ladyland", eine elektrische Echokammer, modelliert nach den Farbenräuschen und Erlebnisfieberkurven, die der Genuss halluzinogener Stimulantien mit sich bringt. Die psychedelische Kultur produziert eine interessante Dialektik: Die Droge wirbelt das Raum-Zeit-Kontinuum des Musik-Erlebens durcheinander, die Klänge wiederum als Abbilder der orgasmischen Erfahrung wirken zurück auf das erfahrende Bewusstsein und erscheinen plastisch, transparent, quasi dreidimensional.

Wie ein Meteoritenschauer

Eine größere Engführung zwischen Kunst und Droge, einen permanenten Karneval des Außer-Sich-Seins und der Bewusstseinsexaltation als in der psychedelischen Kultur hat es nie gegeben. Was in den letzten zwanzig Jahren unter Titeln wie Rave, Goa Trance oder Acid Wonderland unter Genuss wechselnder Partydrogen gelaufen ist, kann in der Schublade Variationen über ein gut ausformuliertes Thema abgelegt werden. Wieder sind wir beim Ich-Zerfall, dem süßen. Einem "Locus amoenus" jenseits von Sprache und Logos, an dem, wie der Philosoph und Ethnopharmakologe Terence McKenna schreibt, alle nur vorstellbaren Informationen plötzlich in einer einzigen überwältigenden Explosion bersten und wie ein Meteoritenschauer herniederregnen.

Die psychedelische Kultur ist die akustisch-visuelle Lesart des von Dr. Benn formulierten Projektes der "Zusammenhangsdurchstoßung" und der "Wirklichkeitszertrümmerung". Oder, wenn man es in die Worte von Jim Morrison übersetzt: "Break on through to the other side." Ein Rausch, der zuerst Tabula-rasa macht, um dann die unbegrenzten Möglichkeiten der Weltgewinnung und des Erkenntniszuwachses aufzuschließen. Somit ein nobles Projekt, das im Halluzinatorischen eine neue Form der Menschwerdung im metapolitischen Raum anstrebt. Allerdings mit Nebenwirkungen, auf die der Beipackzettel mit den Worten von Arthur Rimbaud ausdrücklich hinweist: "Keine Schönheit ohne Gefahr."