Warten auf bessere Zeiten
Das Warten durchwirkt unser aller Leben als blödsinniger Widerspruch. Voller Ungeduld warten wir als Kinder, dass wir endlich groß werden. Dass das Christkind kommt oder die Ferien.
8. April 2017, 21:58
Frisch verliebt, können wir das nächste Rendezvous kaum erwarten. Warten sehnsüchtig, dass die Tage wieder länger werden, und wärmer. Dass eine stressige Woche vorbeigeht. Eine Krankheit. Eine Trauerzeit. Derlei Warten heißt: Wir wünschen dringend, dass die Wartezeit schneller vergeht. Aber wenn Zeit schneller vergeht - dann nähern wir uns auch in Summe gesehen schneller dem Ende. Und genau das wollen wir doch um keinen Preis!
Hundsgemein ist es, dieses Warte-Paradoxon.
Beim Warten vergeht uns die Zeit zu langsam. In der Rückschau tritt aber oft der gegenteilige Effekt ein: Wartezeiten schnurren in der Erinnerung zusammen - nämlich dann, wenn sie uns vergleichsweise leer vorkommen. Wo nicht viel los war, bleibt nicht viel übrig. Vielleicht hat Beckett darauf angespielt, mit dieser obergenialen Stelle in "Warten auf Godot", wo Wladimir zu Estragon sagt:
Warten auf Godot
"So ist die Zeit vergangen."
"Sie wäre sowieso vergangen".
"Ja. Aber langsamer!"
Wer das Leben verwartet, dem rennt es davon. Andererseits: Solange man noch auf etwas oder jemanden wartet, hat man noch Grund auszuharren. Statt sich haamzudraan. Vladimir und Estragon probieren ja durchaus, sich aufzuhängen. Allerdings halbherzig. Denn wer noch wartet, hofft noch. Und wer noch hofft, wartet noch.
Warten auf Godot
"Morgen hängen wir uns auf". Pause. "Es sei denn, dass Godot käme".
"Und wenn er kommt?"
"Sind wir gerettet."
Die zwei in "Warten auf Godot" tun, was wir mehr oder minder alle tun: Das Warten - zwischen dem ersten Schrei und dem letzten Seufzer - halbwegs sinnstiftend zu gestalten. Nur dass Beckett diese Versuche - und ihr zeitweiliges Scheitern - ins Satirische zieht. Wie bei Clowns, die statt zu gehen in einem fort stolpern. Und dabei furchtbar traurig schauen.
Warten auf Godot
"Sag doch was".
"Ich suche".
Lange Pause.
...beängstigt: "Sag doch irgendwas".
"Was sollen wir jetzt machen?"
"Wir warten auf Godot".
Warten, dass das richtige Leben beginnt! Warten, warten, warten, dass man durch das Tor der Erkenntnis eingelassen wird - statt beherzt selbst einzutreten.
Beckett Ping, Kafka Pong.
Vor dem Gesetz
Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also etwas später werde eintreten dürfen. "Es ist möglich", sagt der Türhüter, "jetzt aber nicht."
Der Mann vom Land lässt sich ohne weiteres einschüchtern. Und beschließt vorsichtshalber, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Auf einem Schemel seitwärts der Tür hockend, versucht er es mit Flehen und Bestechen. Vergebens. Die Jahre gehen ins Land, indes: Er wartet.
Vor dem Gesetz
Schließlich wird sein Augenlicht schwach und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muss sich tief zu ihm hinterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannes verändert. "Was willst du denn jetzt noch wissen?" fragt der Türhüter, "du bist unersättlich." "Alle streben nach dem Gesetz", sagt der Mann, "wieso kommt es dann, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?" Der Türhüter erkennt, dass der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: "Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn."
Kafka Pong, Beckett Ping.
Samuel Becketts Libretto zu der Oper "Neither" von Morton Feldman:
Neither
Weder hin und her in Schatten von innerem zu äußerem Schatten von undurchdringbarem selbst zum undurchdringbarem nicht selbst auf dem Weg von keinem wie zwischen zwei hellen Zufluchten, deren Türen einmal angenähert sachte schließen, einmal abgewendet sachte wieder öffnen gelockt zurück und vor und weg gedreht achtlos des Wegs, entschlossen zu dem einen Schein oder dem anderen unhörbarer Tritte einziger Laut bis zuletzt Halt für immer, abwesend für immer vom selbst und anderem dann kein Laut dann sachte nicht auslöschendes Licht auf das nicht beachtete weder unaussprechbares Heim
Gemäß Beckett wäre Leben an sich absurdes Warten. Und dieses absurde Warten der reguläre Seinszustand. Von Morton Feldman musikalisch in der Schwebe gehalten. Warten ist der Weg ist das Ziel.
Der Zug, der längst abgefahren ist
Ein substanziell anderes Warten ist das Warten der "Drei Schwestern". Anton Tschechow lässt in der Provinz warten. Eine Gutsbesitzerklasse wartet - auf einen Zug, der längst abgefahren ist. Und zwar ohne sie. Anschluss an die Zukunft: gecancelled. Da können die drei Schwestern noch so viel "nach Moskau, nach Moskau!" seufzen.
In Zeiten großer Umwälzungen versäumen immer wieder ganze Gesellschaftsteile den Anschluss - und warten auf einen Zug, der nicht mehr fährt. So wie hier und jetzt bestimmte Parteigänger darauf warten, dass sich zum Beispiel diese Krankheit, genannt Migration, wieder legt. Darauf können sie gerne warten.
Zu lange gewartet
Unser Mitleid ergießen wir lieber über einen tragischen Romanheldinnentypus: die Frau, die vergebens auf den Richtigen wartet. Wie in Dezsö Kosztolányis Roman "Lerche". Ein alterndes Mädchen, Lerche gerufen, bleibt ungefreit; denn diese Lerche ist eine Nesthockerin. Und verharrt in selbst gewählter Abhängigkeit im Elternhaus. Herzzerreißend die Stelle am Schluss, wo sie begreift: Die letzte kleine Chance ist verspielt. Der Rest ist Warten auf das Ende.
Lerche
Sie lag aus dem Bett, noch immer mit geschlossenen Augen, auf diesem unfruchtbaren, kalten Mädchenbett, auf dem noch nie etwas geschehen war, auf dem sie nur schlief, krank lag und das sie mit ihrem Gewicht immer weiter hinunterdrückte wie die Leiche die Bahre.
Das Problem, dass in ihrem Bett noch keiner war, das hat Scarlett O'Hara nicht. Die ungestüme Südstaatenschönheit aus Margaret Mitchells "Vom Winde verweht" brockt sich ein anderes Warteschicksal ein. Stur wie ein Bulldozer hat sie sich ihre Jugendliebe Ashley in den Kopf gesetzt. Ashley heiratet aber eine andere. Scarlett stellt ihm weiter nach, wartet, ob sie ihn doch noch erobern kann.
Es ist ein illusionäres Warten auf den Falschen. Den Richtigen hätte sie im Ehebett: Rhett Butler, der so ideal zu ihr passt. Aber für ihn ist sie gefühlsblind. Weil sie sich Ashley einbildet. Sie hat Rhett ohne Liebe geheiratet. Als ihr nach langen Wirrungen endlich und überwältigend klar wird, dass Rhett ihr Heimathafen ist und in Wahrheit immer war: Da ist es zu spät.