Roman von Rudolph Wurlitzer
Zebulon
Ein Western: das ist Abenteuer, Historie - inklusive deren Fälschung -, Drama und Pathos. Bei Rudolph Wurlitzer kommt noch ein Gestaltungselement hinzu bzw. durchsetzt alle anderen: Irrwitz.
8. April 2017, 21:58
Der 1937 geborene US-amerikanische Autor schrieb drei Romane sowie Drehbücher für Regisseure wie Sam Peckinpah, Volker Schlöndorff und Bernardo Bertolucci. 2008 erschien "Zebulon" unter dem Originaltitel "The Drop Edge of Yonder". Der Roman ist eine überarbeitete Fassung eines Drehbuchs aus den 1970er Jahren, von dem sich Jim Jarmusch zu seinem düsteren Psychedelic-Western "Dead Man" inspirieren ließ.
Der Fluch des Halbbluts
Zebulon Shook lebt als Fallensteller am Gila-River in den Bergen Colorados. Eines Tages tauchen während eines Frühjahrsschneesturms zwei durchfrorene Gestalten vor seiner Hütte auf.
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Der Mann trug einen Zylinder, den er mit einem langen roten Schal unter seinem bärtigen Kinn festgebunden hatte, und ein Bisonfell voller Eisklumpen. Die Frau schien ein Shoshone-Halbblut zu sein. Sie steckte in einem riesigen Soldatenmantel mit Sergeant-Streifen auf den Schultern und zwei Einschusslöchern auf der Brust.
Zebulon gewährt dem Mann namens Lobo Bill und der Frau, die "Nicht-hier-nicht da" genannt wird, Unterschlupf. Während einer längeren Abwesenheit Lobo Bills lässt er sich auf ein erotisches Abenteuer mit der Frau ein, was zu einer Auseinandersetzung mit dem zurückkehrenden Lobo Bill führt, in dessen Verlauf Beil und Pistole zum Einsatz kommen und beide Gäste ihr Leben lassen. "Nicht-hier-nicht-da" begibt sich zum Sterben auf eine Eisscholle in der Flussmitte und spricht einen Fluch aus, bevor sie untergeht: Zebulon solle von nun an wie ein Blinder zwischen den Welten treiben, ohne zu wissen, ob er tot oder lebendig sei.
Die Kugel in der Brust
Kurz darauf reitet Zebulon zu einem alljährlichen Trapper-Treffen, bei dem Felle verkauft und das erworbene Geld an Ort und Stelle bei Whiskey, Huren und Kartenspiel verprasst wird. Auf dem Rückweg durch die Hochwüste macht er Rast in der Siedlung Panchito, genauer gesagt in deren Cantina.
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Die knotigen Finger eines Klavierspielers rollten mit mechanischer Präzision über die kaputten Tasten. Am anderen Ende des Tresens saßen zwei abgekämpfte Huren und beobachteten eine in einem Glaskrug zusammengerollte Klapperschlange. Wenn der Klavierspieler einen dissonanten Akkord anschlug, drehte die Schlange den Kopf hin und her und suchte nach einem Ausweg.
In diesem mit allerlei schiefen Gestalten bevölkerten Saloon gerät Zebulon in eine Schießerei und fängt sich eine Kugel ein, die nie mehr seine Brust verlassen wird. Der Fluch zeigt seine Wirkung und setzt eine endlose Reise in Gang, von der nicht sicher ist, ob sie sich noch im Diesseits abspielt.
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War er in Wirklichkeit längst tot und träumte sein Leben und wie es gewesen war oder hätte sein können? Er war auf einer Reise. Dessen war er sich sicher. Einer Reise, die er nicht verfolgen konnte, ohne Anfang und Ende, ohne Grenzen, an die er sich hätte halten können.
Verloren zwischen den Welten
Zebulon taumelt durch ein bizarres Amerika des 19. Jahrhunderts, von den Bergen Colorados bis zu den entlegenen Gegenden des Nordwestens, durch ein Mexiko, in dem gerade eine Revolution ausbricht, über den Golf von Mexiko nach Panama, wo er Bekanntschaft mit der Cholera macht, und die Küste Kaliforniens hinauf bis zum gerade abgebrannten San Francisco und zu den Goldfeldern, die Glücksritter aus aller Welt anlocken.
Der verlorene Mountainman erlebt Schießereien, Liebesabenteuer, Gefängnis, entgeht knapp der Lynchjustiz, versucht mit allerhand schamanistischen Prozeduren Klarheit über seinen Zustand zu erhalten und muss immer wieder fliehen. Er wird Zeuge der Schattenseite des Goldrausches, erlebt Szenen der Auflösung, der Agonie, des Exzesses...
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Weiter drinnen auf dem Gelände knieten halbnackte Indianer, die einzigen, die von Sutters Landarbeitern übrig waren, an einem langen Holztrog und schaufelten sich mit den Händen Tierfutter und Maismehl in den Mund. Beiderseits von ihnen wälzten sich betrunkene Männer auf der Erde, rauften miteinander und stachen und hackten mit Bowie-Messern und Tomahawks aufeinander ein. Ein Schuss fiel, gefolgt vom Schrei einer Frau und irrsinnigem Gelächter. Ein nackter Mann kam mit einer Bratpfanne wedelnd aus einer Scheune gerannt und wurde von einem peruanischen Goldsucher niedergestreckt. (...) Mormonen sangen Kirchenlieder und lobten lauthals den Herrn.
Mythische Personen in einem mythischen Amerika
Wurlitzer schickt Zebulon durch ein mythisches Amerika des Übergangs, in dem die Pionierzeit zu Ende geht, sich aber noch kein wirkliches Staatswesen gebildet hat. Mythische Dimensionen haben auch die Figuren, die Zebulon auf seiner Reise begegnen: wie Hatchet Jack, der angenommene Halbblut-Bruder, der Zebulon als Kind ertränken wollte und der sich auf einer Mission der Versöhnung befindet, die aber immer wieder durch sein hitziges Temperament zum Erliegen kommt, oder Delilah, die schöne abessinische Zauberin mit dem 41er-Derringer in der Tasche, im Schlepptau des gefährlich launischen, vom Zaren angeblich steckbrieflich gesuchten Grafen Baranovsky, oder der alte Mexikaner Plaxico, ein Schamane mit mäßigen Heilungserfolgen, der afrikanische Zwerg Toku, ebenfalls im Übernatürlichen bewandert, der findige Chinese Lu, der gemeinsam mit der tatkräftigen Hure Large Marge einen Gefängnisaufstand anzettelt, der greise Don Luis Arragosa, der friedlich auf seiner Hacienda stirbt, während australische Goldgräber ein Massaker in seinem Dorf anrichten, oder der Gefängnisdirektor, der angetrieben von einer Mischung aus persönlichen Rachegelüsten und politischen Ambitionen mit seiner wilden Bande von Gesetzeshütern Jagd auf Zebulon macht und nebenbei Goldgräberdörfer plündert.
Auch die eine oder andere historische Figur kreuzt Zebulons Weg, wie der Revolvermann und Vielfachmörder John Wesley Hardin, der Eisenbahnmogul Cornelius Vanderbilt oder John Sutter, der "Kaiser von Kalifornien", der sämtliche seiner riesigen Ländereien durch den Goldrausch verliert.
Ruhelose Delilah
Immer wieder taucht Delilah auf, die Glücksspielerin und gebildete Begleiterin wechselnder Partner, ebenfalls eine Ruhelose, eine Reisende zwischen den Welten.
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"Weißt du, wer ich bin?" Ihre Stimme war ein leises Flüstern, wie ein Frösteln in Baumwipfeln. "Ich bin die eine, die in finsterer Nacht auf Erlösung ausgeht, die in Träumen im Innern von Träumen gefangen ist. Weil ich meinen Weg verloren habe, bin ich die Geisel von allem, was zwischen den Welten schwebt. Dich eingeschlossen."
In der Figur der Delilah gehen die beiden Ebenen von Zebulons Reise ineinander über. Immer wieder erlebt er in leicht verschobenen Wiederholungen der Saloon-Szene sein eigenes Sterben, Delilah ist immer dabei. Zebulon hängt in einer Art Purgatorium fest, in einem Zustand zwischen Leben und Tod, in einem Traum, von dem nicht sicher ist, von wem er geträumt wird.
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Nach ein paar Kilometern überfiel ihn die Sorge, er könnte im Sattel einschlafen. Das hätte ihm gerade noch gefehlt, in einem Traum aufzuwachen, der nicht seiner war. Träumen ist leicht, dachte er. Unangenehm wird's, wenn man geträumt wird.
Legendenbildung
Auf einer Reise wie ein Schachteltraum werden die Fragen nach Realität und Identität gestellt. "Quién es?" fragt jedes Mal der kleine Junge, wenn sich Zebulon mit der frisch erworbenen Kugel in der Brust aus dem Straßengraben erhebt, eine Frage, die man in spanischsprachigen Regionen stellt, wenn an der Tür geklopft wird. Wird Zebulon geträumt? Ja, denn Zebulon ist eine Legende.
Rudolph Wurlitzers Roman wirft einen ironischen Blick auf die Legendenbildung selbst, darauf, wie ein Mythos sich selbst webt und wie er gewoben wird. Der in unglückliche Umstände geratene Trapper wird erst durch eine Zeitungsgeschichte zum berühmten Gesetzlosen, dem teils durch eigene Prahlerei, teils durch Böswilligkeit oder Ungenauigkeit Anderer Untaten angedichtet werden, die er nicht begangen oder zumindest nicht verursacht hat. Ein Reporter und später ein Fotograf setzen sich auf Zebulons Fährte, dieser lässt sich bereitwillig ablichten, auch wenn seine erste Begegnung mit der Kamera - bei seiner Aufnahme ins Gefängnis nämlich - keine angenehme ist.
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Zebulon wurde angewiesen, sich an eine Ziegelmauer zu stellen. Der Fotograf war ein untersetzter Mann mit traurigen Augen unter schlaffen Lidern, der eine Baskenmütze trug. Als er unter dem Dunkeltuch verschwand, glaubte Zebulon, er solle mit einer neumodischen Waffe exekutiert werden.
Neuer Western-Archetypus
Das ist nicht so falsch. Denn seine sich verselbständigende Legende wird Zebulon immer mehr zum Verhängnis. Nachdem die Zeitungen voll von Geschichten über ihn sind, gibt es bald keinen Ort mehr, an dem er vor Kopfgeldjägern sicher wäre. Die Legende bildet sich zeitgleich auf zwei Ebenen, auf jener der Geschehnisse und auf jener der Erzählung der Geschehnisse.
Am Ende verschwindet Zebulon, man weiß nicht, ob er sich ein stilles Plätzchen in den Bergen gesucht hat, oder ob er sich einfach aufgelöst hat, so wie sein Gesicht auf der Fotografie, die auf den letzten Seiten des Romans in einem Museum aufgehängt wird.
Mit Zebulon Shook hat Rudolph Wurlitzer eine Figur geschaffen, der man wünscht, dass sie in ihrer irrwitzigen Großartigkeit zu einem neuen Western-Archetypus werden möge. Zebulon ist Trapper und Fallensteller, Spieler und Preisboxer, Opiumraucher, Bankräuber und Flüchtling, Liebhaber und Suchender. Einerseits ein Westernheld auf die Spitze getrieben. Naiv, tapfer, anarchisch, wild, ein Mann, der noch halbtot das Messer zieht und dem ihn bestehlenden Taschendieb die Hand abschneidet, der mit einer Kugel im Herzen kämpft und liebt und nach dem Sterben einfach aufs Pferd steigt und weiterreitet. Andererseits eine Verkörperung Amerikas als eine sich fortsetzende Erzählung über die ewige Wanderschaft verlorener Seelen.
Service
Rudolph Wurlitzer, "Zebulon", aus dem amerikanischen Englisch von Rudolf Hermstein, Residenz Verlag
Residenz - Zebulon