Grundlagen der Emotionsgeschichte

Geschichte und Gefühl

Der emotionale Faktor hat schon bei antiken Geschichtsschreibern wie Tacitus eine bedeutende Rolle gespielt. Positivistische Historiker, die sich am liebsten am archivierten Faktum orientierten, haben darüber gespottet, was sie allerdings in vielen Fällen nicht gehindert hat, zwischen den Zeilen kollektiven oder individuellen Emotionen einen Erklärungswert für historische Geschehnisse zuzuschreiben.

Derzeit sind sie in der Defensive und die Emotionsgeschichte avancierte zum populären akademischen Fach. Jan Plamper, Professor an der University of London, hat eine vieldiskutierte Monographie über die Anatomie des Stalin-Kultes verfasst und arbeitet derzeit an einer Studie über die Angst der Soldaten im Ersten Weltkrieg, darüber etwa, wie diese sich artikulierte, wie sie kommuniziert wurde und welche Auswirkungen sie auf den Kriegsverlauf hatte.

Die neue Popularität der "Gefühlsgeschichte" drängt die Disziplin zur Präzisierung. Schon der Begriff "Emotion" hat etwas vieldeutig-Schwammiges und genau da setzt Jan Plampers Versuch ein, die Grundlagen der Emotionsgeschichte zu klären. Emotionen intervenieren nämlich nicht nur in der Geschichte, sie selbst haben auch eine Geschichte. Das gilt auch für den Begriff und vor allem für unser Verständnis von Emotionen. Plamper versucht eine Darstellung der Theorien zur Emotion, die bis in die Antike zurückgeht, deren Schwerpunkt aber in den letzten dreißig Jahren liegt.

Kein Universalismus

Dem humanwissenschaftlichen Forschungsprozess ist häufig eine Grundfrage vorgelagert: Handeln Menschen auf Grund unwandelbarer, universeller Haltungen oder sind diese Haltungen ein Produkt einer elastischen kulturellen Konstellation? Vor allem die Ethnologie des 20. Jahrhunderts stand vor dieser Frage: "Keine Disziplin hat die Vorstellung, Gefühle seien zeitlos und überall gleich, so nachhaltig erschüttert wie die Ethnologie."

Tatsächlich: Feldstudien berichteten uns von Kleinkulturen, in denen man lachte, wenn ein geliebter Angehöriger starb, oder wo eine juvenile Depression durch eine kollektive Kopfjagd geheilt wurde. Die lange Zeit dominierende Grundannahme der ethnologischen Schule des Anthropologen Franz Boas von einer einheitlichen psychischen Verfassung der Menschheit, Grundlage des Universalismus im Feld der Emotionen, war nicht mehr haltbar und die Schule der Sozialkonstruktivisten, wie etwa Margaret Mead, triumphierte: Liebe, Hass, Furcht oder Gehorsam, so das Ergebnis dieses Paradigmenwechsels, haben keinerlei universelle Eindeutigkeit, sondern in verschiedenen Kulturen durchaus verschiedene Bedeutung.

Die Postmoderne zog nach und riet uns, die alten Gegensatzpaare - etwa Natur-Kultur oder männlich-weiblich -überhaupt aufzugeben und gesellschaftliche Prozesse als Spiel wechselnder Identitäten aufzufassen.

Basale Emotionen

Die damit verbundene "Anerkennung des Anderen", etwa in der Verbindung mit der Polemik gegen den Eurozentrismus, galt als progressiv, doch brachte sie auch einige Probleme mit sich: Ist es nicht eine Neuauflage eines Universalismus, der tatsächlich auf westlichen Werten basiert, wenn beispielsweise gegen das "Andere" der Klitorisbeschneidung gekämpft wird?

In dieser auch für die Emotionenforschung verfahrenen Situation betrat Paul Ekman die wissenschaftliche Bühne, ein charismatischer Forscher, der durch ein Medienimperium gestützt wird und Vorbild für den Dr. Cal Lightman aus der auch hierzulande gezeigten Fernsehserie "Lie to Me" ist. Gestützt auf eine höchstumstrittene Reihe von Fotografien, auf denen ausgewählte Probanden einen bestimmten Gefühlsausdruck darstellen sollten, entwickelte er eine Theorie der grundlegenden, der basalen Emotionen, die mit einem kulturübergreifenden Gefühlsausdruck artikuliert werden.

Auswirkungen auf Geistes- und Sozialwissenschaften

Damit hatte der Universalismus wieder an Terrain gewonnen und dieses Terrain erweiterte sich durch die Popularisierung der Neurowissenschaften, die ja auch ein neues Konzept von Emotionen anbieten. Sind wir überhaupt mehr, als unser naturhaften Bauplänen folgendes Gehirn, dessen universeller Bauweise wir uns jetzt allmählich mit bildhaften Verfahren nähern?

Auch diese Forschungsrichtung hatte ihre Auswirkungen auf Geistes- und Sozialwissenschaften. So berichtet Jan Plamper etwa von einer "Neuropolitologie", zu der er auch die "Affektarbeit" der beiden linken Gesellschaftstheoretiker Michael Hardt und Antonio Negri rechnet. Plamper zitiert sich breit durch die recht inkonsistenten Befunde der Neurowissenschaftler und warnt vor der unkritischen Übernahme ihrer Befunde durch Geisteswissenschaftler, die sich oft nur auf populäre Sachbücher stützen:

Das ist ein vernünftiger Ratschlag, aber wie geht es weiter?

Emotionshistorisch erweiterte Politikgeschichte

Wer Plamper bis hierher - über Hunderte Seiten und nahezu 1.100 Fußnoten - gefolgt ist und bereit war, sich auf ihn einzulassen - hat eigentlich das Recht auf eine Benennung dieser "Grundlagen der Emotionsgeschichte", zumal der Verlag das Buch mit recht konkreten Fragestellungen nach den Folgen der "German Angst" oder dem sogenannten therapeutischen Zeitalter bewirbt.

Doch sowohl die Breite wie auch die hochgespannte Intellektualität des Buches brechen am Ende plötzlich ab, Jan Plamper reduziert sein Feld auf eine "emotionshistorisch erweiterte Politikgeschichte". Und der weist er recht allgemeine Fragestellungen zu: sie möge etwa das politische Vokabular oder die Sprache der Diplomaten unter die emotionshistorische Lupe zu nehmen. Haben wir dafür wirklich die akribische, kluge und in der Lektüre durchaus faszinierende Erörterung verschiedener Sichtweisen von Emotion benötigt - oder segelt das Buch unter einer falschen Flagge und ist nicht mehr als der gigantische Zettelkasten eines klugen und wohlinformierten Gelehrten?

Service

Jan Plamper, "Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte", Siedler-Verlag

Siedler - Geschichte und Gefühl