Weg in die Sucht
Roman mit Kokain
Glück, räsoniert der Protagonist Wadim Maslennikow in M. Agejews "Roman mit Kokain", bestehe aus der raffinierten Verbindung zweier Elemente: dem physischen Glücksgefühl und einem äußeren Ereignis, dem Auslöser in der Psyche. Glück sei, anders als er vor seiner Bekanntschaft mit Kokain angenommen habe, nichts Ganzheitliches.
8. April 2017, 21:58
Zitat
(...) Erst in dem Moment, als ich zum ersten Mal Kokain probierte, wurde es mir klar. Mir wurde klar, dass ich dieses äußere Ereignis, das zu erlangen das Ziel meiner Träume ist, für das ich mich abmühe und mein ganzes Leben vergeude und das ich letzten Endes vielleicht gar nicht erreichen werde, dass ich dieses Ereignis nur deshalb brauche, weil es, in meinem Bewusstsein abgebildet, in mir ein Gefühl von Glück hervorrufen wird. Und wenn - wovon ich mich überzeugen konnte - eine winzig kleine Prise Kokain so viel Macht hat, dass sie in meinem Körper im Handumdrehen dieses Glücksgefühl hervorruft, und zwar in einer nie zuvor gekannten Intensität, so besteht absolut keine Notwendigkeit mehr für ein Ereignis jeglicher Art, und folgerichtig verlieren Mühe, Kraft und Zeit, die man aufbieten muss, um das Ereignis zu bewirken, ihren Sinn.
Die Aufzeichnungen des Wadim Maslennikow sind ein Bekenntnis. Ein junger Mann erzählt von seinem Weg in die Sucht, die ihn letztlich vernichtet. Dabei leuchtet er erbarmungslos in jeden Winkel der eigenen seelischen Abgründe.
Gefühlskalt
Der Gymnasiast und spätere Student der Rechtswissenschaften berichtet von seinen Streifzügen über die Moskauer Boulevards in Russland am Vorabend der Revolution auf der Suche nach erotischen Abenteuern, von seiner Skrupellosigkeit, mit der er ein unschuldiges junges Mädchen benutzt und mit einer venösen Krankheit ansteckt. Er berichtet von der Scham über seine niedrige Herkunft und davon, wie er seine verwitwete Mutter verleugnet, der als einziger Lebenssinn der Sohn geblieben ist.
Maslennikow reagiert auf die emotionale Abhängigkeit der Mutter mit seelischer Grausamkeit. Über die Symptome der eigenen Unfähigkeit zu lieben legt er in schonungsloser Analyse sich selbst gegenüber Zeugnis ab: Seine Beziehung zu anderen Menschen ist durch Lüge, Betrug und Selbstsucht gekennzeichnet, seine Liebe zu Sonja scheitert an seinem Unvermögen, sinnliche und geistige Liebe als Einheit zu erleben. Das Porträt des Ich-Erzählers ist eine profunde Seelenstudie, etwa, wenn Maslennikow die Unfähigkeit an sich feststellt, für seine Liebe zu kämpfen und einen Einsatz zu leisten, der mit dem Risiko der Ablehnung und dem Verlust seines Stolzes verbunden sein könnte.
Zitat
So ganz konnte ich mir dieses komplizierte Gefühl nicht erklären, aber es schien mir, dass mich, sollte das Mädchen, das ich liebte, mich, einen ehrlichen Menschen, des Diebstahls verdächtigen, ein ebensolches Gefühl der bitteren Kränkung davon abhielte, es, das Mädchen, bis zur Selbsterniedrigung von meiner Unschuld überzeugen zu wollen, während ich dies aber mit ausgesprochener Leichtigkeit bei jeder anderen Frau täte, die mir gleichgültig wäre. In diesen kurzen Minuten überzeugte ich mich zum ersten Mal und am eigenen Leibe davon, dass sogar das garstigste Menschenexemplar solche Gefühle haben kann, jene unversöhnlichen, stolzen, uneingeschränkte Gegenseitigkeit fordernden Gefühle, denen das Leid der bitteren Einsamkeit lieber ist als die Freude eines Erfolgs, den der Verstand auf erniedrigende Weise errungen hat.
Wiederentdeckt in den 80ern
"Roman mit Kokain" ist das einzige literarische Werk seines Autors geblieben. Die eigentliche Entdeckung für die russische Literatur passierte erst 1991, als das Buch zum ersten Mal in Russland erschien. Zu diesem Zeitpunkt war der Autor bereits über 20 Jahre tot und seit dem ersten Erscheinen des Romans in einem russischen Exilverlag in Paris 1936 war über ein halbes Jahrhundert vergangen. Damals hatte sich der Autor hinter dem Pseudonym M. Agejew verborgen, das die Literaturgeschichte noch lange beschäftigen sollte.
Das Buch hatte in den 1930er Jahren innerhalb der russischen Emigrantenszene einen kurzlebigen Erfolg und geriet während der Turbulenzen des Zweiten Weltkriegs in Vergessenheit. In den 1980er Jahren wurde es in Frankreich wiederentdeckt, ins Französische übertragen und auch in vielen anderen Sprachen als Bestseller gefeiert. Bis in die späten 1990er Jahre hielt sich die von führenden Slawisten wie Nikita Struwe und Felix Philip Ingold vertretene Überzeugung, dass niemand Geringerer als Wladimir Nabokow mit der Autorenschaft in Verbindung zu bringen sei.
Stilistischer Reichtum
Der Roman ist in der Tat ein literarisches Meisterwerk, nicht allein deshalb, weil die Geschichte von Wadim Maslennikow spannend und gekonnt erzählt ist, weil über die Figuren von dessen Mitschülern ein Gesellschaftsbild des vorrevolutionären Russland im Umbruch unterschiedlicher Weltanschauungen nachgezeichnet wird, und weil der Erzählstrang mit tiefgründigen philosophischen Überlegungen gepflastert ist. Meisterhaft ist vor allem auch der stilistische Reichtum dieses an ungewöhnlichen poetischen Bildern reichen Textes.
Zitat
Wie unter einem dahineilenden Zug ergoss sich der Schnee unter meinen Galoschen wie Milch aus einem Eimer. (...) Die Straße wurde vom Mondlicht scharf in zwei Seiten geteilt - die eine tintenschwarz, die andere ein zartes Smaragdgrün - und da ich auf der Schattenseite lief, beobachtete ich belustigt, wie der Schatten meines Kopfes, der über die schwarze Grenze hinausragte, mitten auf dem Straßenpflaster dahinrollte. Den Mond selbst konnte ich nicht sehen. Aber wenn ich den Kopf hob, sah ich, wie er in den oberen Etagen von einem Fenster zum nächsten sprang und in jeder Scheibe grün aufflammte.
Mark Levi unter Pseudonym
Recherchen in russischen Archiven brachten die Forschung um die Jahrtausendwende dann auf die Fährte eines russisch-jüdischen Emigranten namens Mark Levi, über dessen Autorschaft es bereits in den 1930er Jahren unbestätigte Gerüchte gegeben hatte. Der Sohn eines russisch-jüdischen Pelzhändlers und einer deutschen Pianistin war nach der Oktoberrevolution nach Europa emigriert und vor dem Faschismus weiter nach Istanbul geflohen. Dort scheint er für den sowjetischen Geheimdienst tätig gewesen zu sein, vermutlich um dadurch die Rückkehr in die russische Heimat möglich zu machen.
In den 1940er Jahren durfte Levi dann in die Sowjetunion zurückkehren, allerdings nur nach Armenien, wo er an der Universität Deutsch unterrichtete und 1973 starb. Die Behörden verwehrten ihm die Rückkehr nach Moskau, an den Ort seiner Herkunft, von wo er das autobiografische Material für seinen Roman bezogen hatte: das Gymnasium, das er darin beschrieb, hatte er selbst besucht, danach hatte er ein Studium der Rechtswissenschaften begonnen und er hatte auch einen Bruder, der der Kokainsucht erlegen war.
An ein literarisches Meisterwerk hat Levi jedenfalls nicht geglaubt: So berichtete 2010 die Stieftochter des Autors in einem Interview in einer armenischen Zeitung, dass sie beim Erscheinen des Buchs 1991 die Anekdoten aus der Schulzeit des Stiefvaters wiedererkannte. Den Roman habe ihr Stiefvater seiner Familie gegenüber jedoch niemals erwähnt. Die Geschichte dieses Buchs liefert Stoff zu einem neuen Roman.
Service
M. Agejew, "Roman mit Kokain", aus dem Russischen übersetzt von Valerie Engler und Norma Cassau, Manesse Verlag
Manesse - Roman mit Kokain