Roman von Sofi Oksanen

Stalins Kühe

Anna, Mitte zwanzig, hat ein Problem: Sie kann sich nicht beherrschen. Ob Kekse, Schokolade, Marmelade oder Eis, Pizza, Piroggen, Sauerkrautsuppe oder Torten, ob Bananen oder Baisers - alles schlingt sie bergeweise in sich hinein.

"Der Inhalt meines Einkaufswagens sieht auch heute aus wie der Wochenendbedarf einer Großfamilie", gesteht Anna. Seit 14 Jahren hat sie diese Sucht, seit 14 Jahren hat sie die gleiche Größe - und das gleiche Gewicht: fünfzig Kilo. Denn auf die Fress- folgen die Kotzorgien. Anna ist eine Meisterin des Herauswürgens.

"Musik an, Telefone aus, und die Orgie kann beginnen", sagt Anna.

Eine Form des Widerstands

Anna ist Bulimarektikerin. Zu ihrer Sucht, die sie geheim hält, hat sie ein geradezu zärtlich-religiöses Verhältnis, sie nennt sie "mein wunderbarer Gebieter", "mein Schöpfer und Herr", "strahlend und rosig" fühlt sie sich nach dem Erbrechen, "wunderbar beflügelt und vollkommen". Von Annas "Esskarriere" und Esszirkusschule", ihren "Fressflashs" und wie sie sich äußern, was dahintersteckt und wie sie mit der Geschichte ihrer Familie und ihrer estnisch-finnischen Herkunft zusammenhängen, davon erzählt Sofi Oksanen in ihrem Roman "Stalins Kühe".

Bücher über Bulimie bzw. Essstörungen sind in Mode derzeit. Die meisten dieser Bücher aber sind ziemlich einseitig, glaubt Sofi Oksanen, seicht und trivialpsychologisch. Menschen wie Anna verschweigen ihre Essstörung. Sie fühlen sich nicht wirklich krank. Sie fühlen sich großartig, attraktiv und sexy.

Anna ist ein Einzelkind, Tochter einer Estin und eines Finnen. Ihre Mutter Katariina übersiedelte nach der Heirat in den 70ern nach Finnland und arbeitete als Bauingenieurin. Die Ehe stand unter keinem guten Stern: Der Mann war dauernd auf Montage, wurde untreu und Alkoholiker. Frauen aus dem sowjetbesetzten Estland genossen damals einen üblen Ruf, sie galten als "Huren", die nur wegen des Geldes nach Finnland kamen bzw. einen Finnen heirateten.

Anna wuchs auf in einem Klima des Schweigens, der Verstellung und Selbstverleugnung. Ihre Mutter gebot ihr, ihre estnischen Wurzeln zu verbergen, kein Estnisch zu sprechen und keine estnischen Freunde zu haben. Estnisch war gleichbedeutend mit "Schande".

Annas frühe Bulimarexie, ihr obsessives Fressen und Sich-Erbrechen, ist eine Form des Widerstands, eine Art autoaggressiver Reaktion gegen die von der Mutter verordnete Heimlichtuerei und soziale Isolation. "Ja, Mutter, ich werfe alle Chancen weg, die du nicht gehabt hast", erklärt Anna. "Ich lasse alles andere an mir vorbeirinnen und konzentriere mich auf das Wesentlichste: das Essen. Ich habe jede Chance erbrochen, mit der du mich gefüttert hast."

Ideologische Gräben

Sofi Oksanen, wie ihre "Heldin" als Tochter eines Finnen und einer Estin 1977 geboren und in Finnland aufgewachsen, zeigt die Auswirkungen der tiefen ideologischen Gräben, die bis zum Zusammenbruch des Ostblocks zwischen den beiden Nachbarländern Estland und Finnland existierten: zeigt, wie Ignoranz, Vorurteile und tiefverwurzelte Ressentiments das Leben beherrschen, aber auch, wie Misstrauen, Feindseligkeit und Hass mitten durch ein Familienleben gehen.

Das Beispiel der Familie von Katariinas Mutter illustriert die enge Verflechtung von Politischem und Privaten. Immer wieder wechselt der aus vielen kurzen Abschnitten mosaikartig zusammengesetzte Roman die Zeitebenen, springt von den 70er Jahren oder der Gegenwart des unabhängigen Estland zurück in die Kriegs- und unmittelbare Nachkriegszeit, als Geschwister zu Feinden und Denunzianten wurden: die einen Rebellen und Kämpfer für ein unabhängiges Estland, die anderen Mitläufer und Profiteure des kommunistischen Systems. "Stalins Kühe" beschreibt das Trauma der Besatzung, als Deportation, Lüge und Verrat den Alltag bestimmten und auch viel später noch Ängste und Denkverbote hervorriefen.

Unbefriedigender Schluss

Wie "Fegefeuer", der große Bestseller von Sofi Oksanen, zeugt auch "Stalins Kühe", das im Original schon vor zehn Jahren erschienene Romandebüt der Autorin, von einem beeindruckenden Erzähltalent. Oksanen weiß, farbig, spannend und detailgenau zu schildern, sie besitzt eine präzise Beobachtungsgabe, großes psychologisches Einfühlungsvermögen und einen ausgeprägten Sinn für historische Zusammenhänge. Und doch kann der Roman nicht gänzlich überzeugen, er wirkt teilweise überfrachtet mit Geschichtlichem, lässt manche Figuren blass bleiben, feiert geradezu den Narzissmus der essgestörten Ich-Erzählerin und mündet in einen unbefriedigenden Schluss.

Estland hat seine Unabhängigkeit zurück, doch die "westlichen Farben" seien "die falschen", heißt es. Anna spricht und wiederholt das Bekenntnis "Meine Mutter ist Estin", den lange verpönten, tabuisierten Satz, den zu lernen sie "ein Vierteljahrhundert gebraucht habe" - und lässt den Leser über dessen therapeutische Funktion doch mehr als im Zweifel. "Ich bin leicht, auch ohne mich zu erbrechen", sagt Anna - um dann doch wieder zu fressen und zu erbrechen, sich träge, alt und müde zu fühlen. Ein widersprüchliches, nicht wirklich nachvollziehbares Ende nach knapp 500 Seiten.

Bleibt zuletzt noch das Rätsel des Titels zu lüften: "Stalins Kühe". Er bezieht sich auf eine Anekdote aus der Sowjetzeit, als Stalins Propaganda das Leben schönredete, den Esten ein X für ein U vormachte und Ziegen als Kühe verkaufte.

Service

Sofi Oksanen, "Stalins Kühe", aus dem Finnischen von Angela Plöger, Kiepenheuer & Witsch

Kiepenheuer & Witsch - Sofi Oksanen