Berichte österreichischer Emigrant/innen
Nach dem "Anschluss"
Das Anliegen des Buches ist es, anhand von Zeitzeugenberichten über die Maßnahmen zu informieren, die bereits unmittelbar nach dem "Anschluss" eingeleitet wurden, um die totale Unterwerfung Österreichs zu realisieren. Im Mittelpunkt steht das Schicksal derjenigen, die die Nationalsozialisten als Gegner ansahen.
26. April 2017, 12:54
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1938 - vielleicht wäre damals noch Zeit zu Entschlüssen gewesen, vielleicht wäre uns viel Bitteres erspart geblieben, vielleicht aber hätte das Kind bezahlen müssen, dass sich der Mann rechtzeitig nach Italien gerettet hatte. Kein Hahn hätte gekräht, wenn sich das Gesindel an mir und damit auch dem Kind schadlos gehalten hätte. Wir waren Freiwild.
130 000 Menschen, die zu Jüdinnen und Juden deklariert worden waren, konnten ausreisen oder fliehen, 2.000 versteckt in Wien bleiben, noch einmal 2.000 kehrten 1945 aus den Lagern zurück - mehr als 67.000 österreichische Jüdinnen und Juden erlebten das Kriegsende nicht.
20 Geschichten von österreichischen Emigrantinnen und Emigranten, die den Krieg überlebt haben, liegen mit dem Buch "Nach dem 'Anschluss' vor. Grundlage sind 263 Berichte aus aller Welt, davon 41 von Österreicherinnen und Österreichern, die seit Jahrzehnten in der Houghton Library der Universität Harvard liegen. Entstanden sind sie, nachdem die Universität einen weltweiten Aufsatzwettbewerb ausgerufen hatte. Das Thema: "Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933". Mit diesem Datum änderte sich alles.
Kurz nach der Flucht
"Der Jud muss weg - sein Gerstl bleibt da." Dieser Ausspruch wurde salonfähig und rechtfertigte Demütigungen und bürokratisch organisierten Raub. Diejenigen, die ausreisen wollten, wurden schikaniert.
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Auf die Frage eines Juden, warum man, da man doch die Juden loswerden wolle, ihnen solche Schwierigkeiten bei der Passbeschaffung bereite, erwiderte ein Nazibeamter: "Unsere Devise ist nicht 'Juda verreise', sondern 'Juda verrecke'!" Dieses Passamt arbeitete so schlecht, dass Leute, die dort um ihre Pässe angesucht hatten, sie oft ein halbes Jahr später noch nicht in den Händen hatten. Mittlerweile waren die österreichischen Pässe überhaupt für ungültig erklärt und durch reichsdeutsche ersetzt worden.
Das Besondere am vorliegenden Buch ist, dass alle Erinnerungen schon kurz nach der Flucht niedergeschrieben wurden. Die meisten Berichte stammen aus der Zeit zwischen 1939 und 1940. Die Erinnerung an die Vertreibung und an die schrecklichen Geschehnisse davor war noch nicht verblasst. Dadurch wirken die Texte besonders authentisch.
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Samstag, den 12. März, in der Frühe, wenige Stunden nach der Machtergreifung Hitlers, hatte mich mein Kollege Dr. Zohner angerufen, von zu Hause abgeholt und mich ins Büro begleitet, weil er es gefährlich fand, mich allein gehen zu lassen. Montag, den 14. März, kannte er mich nicht mehr.
Nährboden für Sadismus
Wenn ein System Macht erteilt, dann nützen diejenigen, die sie bekommen, sie auch schamlos aus. Das zeigt das Buch genauso wie die Tatsache, dass Mitleid sich in Grenzen hielt, das niederträchtige Handeln der Nicht-Opfer zur Normalität wurde und so den Boden für alles bereitete, was noch kommen sollte. Es wird greifbar, wie der Nährboden für Sadismus, Gier und Feigheit gedeihen konnten, wie Mitleid, Nächstenliebe und Mut hingegen zur Ausnahme wurden.
Die Menschen, die die Texte schrieben, schildern nicht nur ihre persönlichen Eindrücke, sie geben Einblicke in ein System.
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Es waren vielleicht große Idealisten, aber es waren krankhaft verzerrte Idealisten, es waren lauter kleine Inquisitoren. (Paul Diel)
Persönliche Auswirkungen
Den Hinweis auf die Harvard-Sammlung erhielten Margarete Limberg und Hubert Rübsaat bei Recherchen im Leo Baeck Institut in New York. Sie nutzten diese Textsammlung damals für ein Buch über deutsche Emigranten. Für das Buch "Nach dem Anschluss" wählten sie jene Texte aus, in denen Betroffene aus persönlicher Sicht die Vorgänge vor und nach dem "Anschluss", das heißt die persönlichen Auswirkungen schilderten. Dabei wird zum Beispiel klar, wie sehr ein "christlicher Antisemitismus" auf die Menschen eingewirkt hatte. Später gingen die Nationalsozialisten auch gegen Christen vor.
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In der Glockengasse staute sich vor einem Schaufenster eine kleine Volksmenge. In dem engen Fenster saß eine Frau, die Tränen liefen ihr über das Gesicht, um ihren Hals hing ein Plakat: "Ich Christenschwein kauf beim Juden ein." Die vorbeikommenden Nazis spuckten auf das Glas, dass es nur so troff. Auch der Ausdruck "Christenschwein" hatte seinen Sinn. Man versuchte von Anfang an, die heidnische Bewegung, die im Reich große Anhängerschaft besaß, auf das religiöse und zu einem großen Prozentsatz wirklich fromme Österreich übergreifen zu lassen.
Besonders berührend: In den Texten findet sich kaum Hass, wohl aber - trotz aller Freude über das Entkommen - eine tiefe Trauer über den Verlust der Heimat, der zurückgelassenen Freunde und Verwandten und des früheren Lebens. Und die Geflohenen erinnern sich dankbar an jene nichtjüdischen Menschen, die ihnen trotz aller bestehenden Zwänge und Verbote geholfen haben. Als Leser, als Leserin berührt der Versuch der Emigrierten, das Erlebte zu begreifen. Es sind Geschichten, die Geschichte lebendig wie selten machen.
Service
Margarete Limberg, Hubert Rübsaat (Hg.), "Nach dem 'Anschluss'. Berichte österreichischer Emigrant/innen aus dem Archiv der Harvard University", Mandelbaum Verlag
Mandelbaum Verlag