Leningrad 1941-1942

Lenas Tagebuch

Die Blockade Leningrads durch die deutsche Wehrmacht dauerte 872 Tag lang - vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944. Russlands alte Hauptstadt an der Newa sollte - nach Hitlers Vorstellung - dem Erdboden gleich gemacht werden.

Über 16.000 Zivilisten der Drei-Millionenstadt kamen bei deutschen Bombenabwürfen ums Leben, über eine Million Zivilisten starben infolge von Hunger und Krankheit. Manche Historiker sprechen von bis zu eineinhalb Millionen Opfern. Allein im ersten Kriegsjahr, von Juni 1941 bis Juni 1942, starben etwa 470.000 Leningrader.

Ende einer Kindheit

Trotz der beengten Lebensumstände in der Kommunalka, einer Gemeinschaftswohnung, in der die 16-jährige Schülerin Lena Muchina mit ihrer Stiefmutter und einer alten Verwandten Namens Aka zusammenlebt, beginnt es fast idyllisch. Im Mai 1941 träumt Lena noch Mädchenträume vom Leben, vom Tanzen und Kleidern und verzeichnet akribisch ihren Tagesablauf: Gymnastik, Radiohören; sie schwört, eifrig zu lernen, die Prüfungen vor Schulschluss stehen an.

Lena Muchnas Tagebuch weist an einigen wenige Stellen Spuren sowjetischer Propaganda auf. Im Wesentlichen geht es auf den 300 Seiten des Tagebuchs aber ohnedies um Privates, um eigene Gedanken, um den Alltag, der bald zur Hölle wird. Die Kindheit ist zu Ende.

Lena Muchina hebt Schützengräben aus, sie räumt Schutt auf, in einem Krankenhaus arbeitet sie als Hilfsschwester - dort sieht sie auch ihren "ersten Toten". Sie schaufelt Schnee, vor allem zieht sie täglich aus, um zwischen leeren Geschäften, und irgendwelchen Kantinen Lebensmittel zu ergattern. Diese sind streng rationiert. Leningrad hat zu Kriegsbegin gerade noch Lebensmittelvorräte für 30 Tage.

Die Jagd nach Brot, dünner Graupensuppe, einigen Gramm Fett, und das Rechnen mit den Lebensmittelkarten wird Lenas tagtägliches Martyrium, das sie nachts penibel verzeichnet. In seltenen Ausnahmen tauchen Lebensmittellieferungen der Alliierten auf: Dass sie mit dem luxuriösen Geschenk nicht besser haushalten konnte, bedauert Lena tagelang:

An Bombardements gewöhnt

Versetzen die deutschen Bombardements Leingrads Bevölkerung anfangs in Panik, hat sie sich ab Oktober auch an die zehnmaligen täglichen Angriffe gewöhnt. Es gibt weder Gas zum Kochen, selten Strom, Wasser wird mit Kübeln geholt, die Suche nach Essbarem und Heizmaterial hat alle erschöpft: überall liegen Leichen herum, auf der Straße, in den Hausfluren. Leningrad ist eine Totenstadt, über die außergewöhnliche Kälte und der Winter hereinbrechen.

Eines Tages fällt Lena beim Lesen ihres Tagebuches auf, dass sie eigentlich nur noch über Essen schreibt. Über den Tod ihrer leiblichen Mutter verliert sie einen einzigen Satz. Die Aussichtslosigkeit hat ihren Höhepunkt erreicht - man braucht als Leser schon einen guten Magen, wenn man von den Koch-Experimenten erfährt, die Lena und ihre Stiefmutter unternehmen. Mottenpulver wird als Mehl verwendet. Tischlerleim wird aufgekocht und einfach zu "Gelee" oder zu "Sülze" erklärt. Lena schreibt zufrieden: "Es schmeckt lecker."

Ein Esser weniger

Als die längst bettlägerige Tante Aka kurz vor Jahresende kaum mehr Lebenszeichen von sich gibt, wartet die Tagebuchschreiberin ganz nüchtern darauf, es werde demnächst einen Esser weniger in der Familie geben. Nach deren Tod heißt es:

Die Hoffnung erfüllt sich nicht, die Lebensmittelkarten der Toten müssen abgeliefert werden. Anfang Februar stirbt auch die Stiefmutter. Lena bringt sie auf einem Schlitten zum Massengrab; erst einen Monat später hat sie Kraft, über Sterben und Tod der Mutter ausführlich zu schreiben und zu weinen: "Ich sitze auf einer Parkbank und heule vor mich hin." Das Tagebuch ist ihr einziger "Ratgeber", wie sie einmal vermerkt.

Im April 1942 erfährt Lena Muchina von der Möglichkeit einer Evakuierung - abermals folgt endloses Schlange-Stehen am Evakuierungspunkt.

Überlebt!

Woher die mittlerweile Siebzehnjährige noch immer die Kraft nimmt, minutiös das Grün des Frühlings zu beschreiben, die ersten Sonnenstrahlen, die Krähen, die ihre Nester bauen, bleibt ein Rätsel und gleicht einem Wunder. In ihrer letzten Notiz hält Lena Muchina das Sammeln von Brennnesseln auf einem Müllhaufen fest: "Lena beschloss, heute Abend 'zu Hause' Brennnesselsuppe mit Fleisch zuzubereiten."

Am 25. Mai bricht das Tagebuch ab. Lena Muchina wird im Juni 1942 tatsächlich evakuiert, sie kommt nach Gorki, das heutige Nischni Nowgorod, zu Verwandten. Im Herbst 1945 kehrt sie in das "verfluchte" Leningrad zurück. Sie hatte sich geschworen, die Stadt nie mehr zu betreten, sollte sie überleben. Im August 1991 stirbt Lena Muchina 66-jährig - Leningrad wurde zu dieser Zeit gerade in Sankt Petersburg zurückbenannt.

Service

Lena Muchina, "Lenas Tagebuch, Leningrad 1941-1942", aus dem Russischen übersetzt und mit einem Vor- und Nachwort sowie Anmerkungen von Lena Gorelik und Gero Fedtke, Graf Verlag

Graf Verlag