"Mariaschwarz" in der Hörspiel-Galerie

Das Universum des Heinrich Steinfest

März 2011: im Zug mit Heinrich Steinfest. Der österreichisch-deutsche Autor hat am Vorabend in Wien aus seinem Stuttgart-21-Krimi "Wo die Löwen weinen" gelesen und möchte das auch am nächsten Tag in seiner derzeitigen Stuttgarter Wahlheimat tun.

Sein Flugticket hat er verfallen lassen, weil es ihm einleuchtend erschien, mit der Reporterin im umkämpften Kopfbahnhof einzufahren. Zwei junge, unauffällig wirkende Personen in Zivil durchqueren den Großraumwagen und beflügeln seine Fantasie. "Das sind Kriminalpolizisten", sagt er, "ganz bestimmt." Wen werden die wohl kontrollieren? Ihn sicher nicht, so harmlos, wie er wirkt. Die haben, scherzt er, noch immer nicht kapiert, dass Drogendealer/innen selten wie Junkies aussehen, sondern eher wie seriöse Geschäftsleute. Wobei er - der Zug fährt und Steinfest kommt in Fahrt - tatsächlich auch schon unter dem Verdacht stand, Drogen zu nehmen.

Heinrich Steinfest

Heinrich Steinfest

(c) Murat, EPA

Das war damals, als der adrette und bis zu diesem Zeitpunkt völlig angepasste Schüler ein paar Wochen vor der Matura mitten in einer Schulstunde aufstand, in die Direktion marschierte, um sich abzumelden, weil er einfach nicht mehr wollte, und anschließend im Café Museum untertauchte. Dorthin folgten ihm dann auch ein paar Freunde und die einzige Lehrerin, von der er etwas hielt - und sie von ihm. Er hatte sie mit einem Referat über Kafkas Text "Vor dem Gesetz" verblüfft und begeistert. "Kafka zu entdecken war wie ein Fieber", erinnert sich Steinfest, "wie eine Entzündung, die von einem auf den anderen Tag alles verändert." Bis dahin hatte er ausschließlich Donald-Duck-Geschichten gelesen, sich im Paralleluniversum von Entenhausen herumgetrieben. Übrigens eine wundervolle Lektüre, die er jetzt auch seinem Sohn Bruno angedeihen lasse. Die Lehrerin versuchte erst gar nicht, dem mittlerweile Volljährigen seinen Entschluss auszureden. "Du wirst Deinen Weg gehen", sagte sie. Er selbst, der damals bildender Künstler werden wollte, war nicht so überzeugt. Möglicherweise stand ihm eine Versagerkarriere à la Donald Duck bevor.

Als Steinfest an diesem Punkt der Erzählung angekommen ist, fährt der Zug im Bahnhof Salzburg ein und eine Lautsprecherstimme verkündet, dass die Fahrt hier ende. Wegen eines technischen Gebrechens auf deutschem Bundesgebiet müssten leider alle aussteigen. Verwirrung, Chaos und die Angst des Autors, am Abend nicht rechtzeitig zu seiner Lesung zu kommen. Eine Szene wie aus einem Steinfest-Krimi. Nur, dass in diesem Krimi oder in diesem krimiähnlichen Text - denn Steinfest hat sprachlich, philosophisch, psychologisch und politisch weit mehr zu bieten als nur eine spannende Handlung - alles etwas anders weitergehen würde als in der Realität.

Im Krimi würden beispielsweise die unauffälligen Kriminalbeamten tot aufgefunden werden, vielleicht gäbe es auch andere Leichen. Zufällig wäre aber auch ein Kommissar mit an Bord des IC, der gegen den Willen der in das Verbrechen involvierten Obrigkeit profunde Aufklärungsarbeit leis¬ten und auf einen Sumpf von Korruption stoßen würde. Oder es wäre eine Androide mit im Zug, eine wunderschöne humanoide Roboterin aus Glasfasern, die trotzdem eine Seele und sexuelle Bedürfnisse hätte. Sie wäre bewaffnet und hätte keine Hemmungen, zu schießen, wenn es um die Rettung des Stuttgarter Kopfbahnhofs geht, der einem unterirdischen Monstrum weichen soll. Der Autor würde der coolen Lady auch noch persönliche Motive mitgeben. Denn eindimensionale Figuren mag Heinrich Steinfest nicht, egal ob sie aus dieser oder einer anderen Welt kommen. Möglicherweise würden die Insass/innen des Zuges auch auf einen anderen Planeten gebeamt. So geschehen in einer Binnengeschichte aus Steinfests aktuellem Roman "Das himmlische Kind", der ausdrücklich kein Krimi sein will, aber eine Geschichte voller Wunder ist. Wären wir in einem Krimi, so könnte es sich um einen Fall für Lilli Steinbeck mit ihrer Klingonennase handeln, die ein gutes Gespür für Entführungsfälle hat. Klingonen sind übrigens ein Volk aus der TV-Serie "Star-Trek" und haben erstaunliche instinktive Fähigkeiten.

Nichts von all dem im Zug, der in Salzburg stehen geblieben ist und nach Budapest zurück-, statt nach München weiterfahren wird. Gerne würde sich der Autor nach Stuttgart zu seiner Lesung beamen, aber es warten die Mühen der irdischen Ebene. Schienenersatzverkehr, ein überfüllter Bus, schließlich ein Zug von München nach Stuttgart, der, vorbei am Schlossgarten, der grünen Lunge der Stadt, in den Kopfbahnhof einfährt, den es - amputiert um sein Nordportal, das in einer Nacht- und Nebel¬aktion weggerissen wurde - immer noch gibt. Dann mit dem Taxi zur Lesung, die der Autor gerade noch rechtzeitig erreicht.

Steinfest wurde und ist bildender Künstler. Er hat auch Science-Fiction-Romane geschrieben und sein Glück als außergewöhnlicher Krimiautor gemacht, der von Wien, einer Stadt, die ihn privat zu sehr eingeengt hat, vor 16 Jahren nach Stuttgart ausgewandert ist. Seine ersten Krimis drehen sich um den Wiener Privatdetektiv Cheng, der chinesischer Abstammung ist und wie ein Chinese aussieht, aber noch niemals in China war und auch nicht Chinesisch spricht. Schon im ersten Teil verliert Cheng seinen Arm, seinen Hund Lauscher und sein Leben. Trotzdem leben Cheng und Lauscher schon im nächsten Band ("Ein sturer Hund") munter weiter. Wobei Lauscher nicht wirklich munter ist, eher nachdenklich passiv, wenngleich vielleicht nicht ganz so taub, wie er tut. Jedenfalls ist er ein Monument gegen den rasenden Zeitgeist.

Ein Monument gegen den Zeitgeist sind auch Steinfests Romane. Wäre der Plot seiner Geschichten nicht so spannend, könnte man die Krimihandlung für nebensächlich halten. Denn in Steinfests Büchern wird die philosophisch-gesellschaftskritische Ausschweifung zelebriert. In den Cheng-Romanen erinnert vieles an Thomas Bernhard, allerdings unter Aussparung des Wortes "naturgemäß". Später tendiert er mehr in Richtung Doderer und wird 2010 mit dem Heimito-von-Doderer-Preis belohnt. Nichts, was er schreibt, ist epigonal, aber alles beziehungsreich. Steinfest zitiert und reflektiert auf hohem sarkastischen Niveau.

In seiner ruhigen Stuttgarter Wohnung liegen Steinfests Romanskizzen auf dem Tisch. Auf Kopien von Beethoven-Partituren oder alten Weltkarten hat er seine großen Szenarien entworfen, ein grafisches Universum aus Figuren, Zeiten, Räumen, Orten, Zitaten und Notizen. Unmöglich, einen komplexen Roman wie "Mariaschwarz" nachzuerzählen. Aber als Hörspiel inszenieren lässt er sich sehr wohl, demnächst zu hören in Ö1. Es geht um einen Wirt und seinen geheimnisvollen Gast, einen dunklen See, auf dessen Grund ein Skelett liegt, einen Vater, der seine Tochter sucht, die nicht seine Tochter ist, ein U-Boot und viele Menschen, die hinter magischen Figürchen aus einem ganz besonderen Kunststoff her sind. Alles klar? Nacherzählen lässt sich das wirklich nicht - anhören schon.