Roman von Dirk Kurbjuweit

Angst

"Ein Verbrechen ist geschehen, ein Verbrechen, das wir wollten, und wie bei jedem Verbrechen gibt es eine Entwicklung, die darauf zuführt. Ich will das Ganze erzählen, nicht nur das Fehlende, damit man das Fehlende versteht (...)".

Das sagt ein Mann, der das Unfassbare einer Tat fassbar machen will, der Rechenschaft ablegen, sich seiner Schuld stellen und schreibend Licht ins Dunkel eines Verbrechens bringen will. Randolph Tiefenthaler und seine Familie wurden Opfer eines Stalkers, der sie verfolgte und diffamierte. Und die Opfer wurden Täter. Davon erzählt Dirk Kurbjuweits Roman "Angst".

Angst vor Verlusten

"Angst ist das vorherrschende Gefühl in dieser Familie, die Angst vor Verlusten. Es geht hier um eine bürgerliche Familie, die sich einiges erworben hat, die irgendwie auch gut zusammengewachsen ist - und die dann eine schwere Krise erlebt und Angst bekommt, das alles zu verlieren", so der Autor.

Was macht der Einbruch des Unberechenbaren aus einer scheinbar glücklichen Familie? Wie können haltlose Anschuldigungen zu einem unlösbaren Problem werden - und Ohnmacht und Hilflosigkeit in Hass und Mordgedanken umschlagen? Wie wird ein vermeintlich unbeschwerter Alltag zu einem "Worst-Case-Leben", das Hysterie und Paranoia prägen?

Dirk Kurbjuweit kann sich nur allzu gut in Randolph Tiefenthaler, den Protagonisten und Ich-Erzähler seines Romans, und dessen Leben hineinversetzen: "Das ist schon mein eigenes Leben. Vor zehn, elf Jahren hatte meine Familie einen Stalker. Nachdem er uns erst sehr freundlich begegnet ist, hat er irgendwann angefangen, uns zu terrorisieren, vor allem meine Frau. Das Buch hat natürlich schon mit dieser Geschichte einiges zu tun, mit den Erfahrungen, die ich dort mit mir selbst gemacht habe."

Keine Hilfe von außen

Die Geschichte beginnt im Gefängnis. Randolph Tiefenthaler besucht seinen Vater, der acht Jahre bekommen hat - wegen vorsätzlicher Tötung eines Stalkers - und nun seit einem halben Jahr in Haft ist. "Ich muss bekennen, dass ich nicht unschuldig bin", erklärt der Sohn. "Ich hätte die Tat verhindern können, aber ich wollte es nicht." Was folgt, ist die Vorgeschichte.

Tiefenthaler, verheiratet, zwei kleine Kinder, ist ein erfolgreicher Architekt. In Berlin hat er eine schöne Altbauwohnung gekauft, Hochparterre in einem repräsentativen Gründerzeithaus. Im Souterrain des Hauses lebt ein arbeitsloser Mann um die vierzig, Dieter Tiberius. Tiberius wird zur Qual. Er beginnt, anzügliche Bemerkungen gegenüber Tiefenthalers Frau zu machen, schreibt ihr Gedichte, Liebesbriefe, beobachtet sie - und beschuldigt schließlich die Tiefenthalers, Kinderschänder zu sein.

Tiberius erstattet Anzeige, schickt Mails an RTL, Sat.1 und "Bild". Die Tiefenthalers sind fassungslos, die Frau brüllt den Souterrain-Bewohner an, der Mann stellt ihn zur Rede. Doch der lässt nicht locker. "... der ist doch ein Stalker, da muss man doch was machen können", echauffiert sich Tiefenthaler.

"Von außen passiert ja gar nicht so viel", sagt Kurbjuweit. "Der Stalker, der ist natürlich unangenehm in den Briefen, die er schreibt, und in seinen Handlungen. Aber er ist ja nicht gewalttätig. Das meiste spielt sich in den Köpfen der Tiefenthalers ab - was nicht heißt, dass es da nicht schlimm ist. Das Ungeheure im Kopf kann eben auch die Hölle sein. Und diese Erfahrung, wie schnell man von einem sehr zivilen, friedlichen Denken und Leben in so eine innere Barbarei abrutschen kann, das war für mich in der Auseinandersetzung mit diesem Roman das eigentlich Interessante."

Hilflos gegen Psychoterror

"Ein Großereignis", sagt Randolph Tiefenthaler, "kommt nicht aus dem Nichts, es muss Ursachen haben, es muss eine Geschichte haben". Und so setzt er sich an den Schreibtisch und rekapituliert seine Geschichte.

Tiefenthaler ist der Sohn eines Waffennarrs. Der Vater, ein Autoverkäufer, ging nie ohne Pistole aus dem Haus, war regelmäßig am Schießstand und versuchte früh, auch den Sohn mit Schießübungen zu drillen. Der Vater hatte Angst - und verursachte Angst. "Für mich war zu Hause ein Ort, wo man erschossen werden kann", sagt Tiefenthaler, der nicht nur über die von Sprachlosigkeit und Entfremdung geprägte Vater-Beziehung räsoniert, sondern auch über seine Ehe. Er spricht von seinem "Wegdriften", seinem Hinausschleichen aus der Ehe, seiner Apathie, doch im Gegensatz zu seiner Frau macht ihm das Erkalten der Beziehung nichts aus. Er genießt das Alleinsein.

Offenbar überzeugt davon, dass Stalker-Tragödie, Vater-Probleme und Ehe-Dilemma miteinander verknüpft sind, entwirft Kurbjuweit das Psychogramm eines Mannes, dem die bürgerliche Fassade ebenso viel gilt wie die selbst konzedierte Friedfertigkeit - und der nicht zuletzt deshalb dem Psychoterror des Stalkers hilflos gegenübersteht. Er nennt Tiberius "das Schwein", "unser Untermensch", er bekennt seine Mordgelüste - und verwirft doch den Gedanken an Selbstjustiz. Er glaubt an den Rechtsstaat. Und wird enttäuscht.

"Es ist ja so, dass die Außenwelt eigentlich gar nichts macht", so Kurbjuweit. "Sie hört sich diese Geschichte an. Die Polizei hört sich das alles an, das Jugendamt, aber sie handeln ja nicht. Vor allem der Rechtsstaat gibt sich hier passiv, er sagt, ich kann nichts tun, für diesen besonderen Fall des Stalkings gibt es keine Gesetze. Wir können Sie nicht schützen."

Geschichte einer Entgleisung

Die Tiefenthalers fühlen sich schutzlos, im Stich gelassen, sie wissen nicht, wie sie sich gegen den Stalker zur Wehr setzen können, sie fürchten, man würde Tiberius glauben und nicht ihnen. Sie reagieren reizbar, aggressiv, panisch - und spüren die "Verlockungen der Barbarei" - den Wunsch, dem Treiben des Tiberius mit Gewalt ein Ende zu setzen.

"Ähnlich wie für Randolph Tiefenthaler gab es für mich Sekunden, Minuten, in denen ich mir die Tat vorgestellt habe, in der Verzweiflung den Schuss gemacht habe", sagt Kurbjuweit. "Keine schönen Gedanken, nichts, worauf man stolz sein könnte. Aber es war so. Das ist eben das Gute am Roman, dass man es weitertreiben kann. Zum Glück bin ich ein so ziviler, friedlicher Mensch, dass ich eine solche Tat nicht begehen kann. Und ich halte Selbstjustiz auch für absolut unerträglich. Aber ich kann nicht sagen, dass ich sie im Kopf nicht begangen habe. Und damit spielt der Roman am Ende auch: dass das, was ausgedacht war, dann zur Wirklichkeit dieser Geschichte wird."

Mit "Angst" gelingt Dirk Kurbjuweit die präzise, einfühlsam und unaufgeregt erzählte Geschichte einer Entgleisung. Sein Roman lebt von der cleveren Dramaturgie mit Rückblenden und Andeutungen, nicht von einer Thriller-artigen Dramatik. Kurbjuweits Erzählstil wirkt zurückhaltend, unprätentiös, vielleicht auch ein bisschen brav und zu sehr in Erklärungen sich ergehend. Aber gerade das, dass das Ungeheure nicht rhetorisch voluminös inszeniert wird, macht wohl auch die Spannung, das subtil Packende dieser Geschichte aus, die nur allzu gut nachvollziehbar ist.

Einer Geschichte, die am Ende einen Justizirrtum offenbart, einen schuldlosen Vater und einen schuldigen Sohn, die Angst und Hilflosigkeit als Auslöser von Gewalt zeigt und einen von Schuldgefühlen Bedrängten, der schließlich glaubt, die "Normalität" zurückgewonnen zu haben - und doch nicht anders kann, als schreibend Geständnis und Rechenschaft abzuliefern: "Ein Verbrechen ist geschehen, ein Verbrechen, das wir wollten".

Service

Dirk Kurbjuweit, "Angst", Rowohlt Verlag

Rowohlt