Wie wir morgen leben
Morgenstadt
Große Städte dehnen sich immer weiter in ihr Umland aus. Wie lange kann das noch funktionieren, ohne dass die Infrastruktur zusammenbricht? Mit dieser Frage beschäftigen sich Hans-Jörg Bullinger und Brigitte Röthlein in ihrem Buch "Morgenstadt". Dieses versteht sich als Gegenwurf zur Fehlentwicklung der Mega-City.
8. April 2017, 21:58
Projekt Masdar City
"Masdar City ist eine moderne arabische Stadt, die wie ihre Vorgänger in Einklang mit ihrer Umgebung ist (...) ein Modell für nachhaltige urbane Entwicklung (...), das die höchste Lebensqualität und das beste Arbeitsumfeld mit dem geringstmöglichen ökologischen Fußabdruck verbindet", heißt es auf der Website von Masdar City, einem Vorzeigeprojekt des Wüstenstaates Abu Dhabi.
Ausgerechnet im Wüstensand der Golfregion mit ihren immensen Ölvorkommen soll auf einer Fläche von sieben Quadratkilometern die modernste Öko-Stadt der Welt entstehen - für rund 47.000 Menschen. Für die Wasserversorgung sind solarbetriebene Entsalzungsanlagen geplant, für die Energieversorgung Solar- und Geothermieanlagen, eine enge Bebauung, mit neuartigen Fassaden, Schattensegeln und kühlenden Windtürmen, soll erträgliche Temperaturen garantieren, konsequentes Recycling eine Stadt ohne Müll ermöglichen. Autos mit Verbrennungsmotor sind hier tabu, für Mobilität sorgen führerlose Gondeln und Elektrofahrzeuge.
"Wenn sie hinkommen, dann müssen sie Ihr Auto abgeben, steigen dann um in kleine Elektrofahrzeuge, die automatisch gesteuert werden. Die Gebäude sind so sieben Meter über dem Boden gebaut, darunter ist das Versorgungssystem. Sie programmieren ihr Ziel ein, fahren dann dorthin. Also es ist sehr interessant." Für Hans-Jörg Bullinger, Spezialist für Technologie-Management und bis 2012 Präsident der deutschen Fraunhofer-Gesellschaft, mit mehr als 80 Forschungseinrichtungen und über 20.000 Mitarbeitern die größte Organisation für angewandte Forschung in Europa, ist Masdar City ein spannendes Projekt.
Noch ist die Stadt nicht fertig, noch existiert ein großer Teil nur als Modell - und doch gilt das unter anderem von Star-Architekt Norman Foster entwickelte, keineswegs unumstrittene Bauvorhaben als Prototyp einer "smart city", einer Öko- oder "Morgenstadt". "Masdar City ist ein extrem interessantes Experiment", meint Bullinger. "Wir fühlten uns ein bisschen geehrt, dass wir als eine der wenigen ausländischen Forschungsorganisationen da mitwirken durften. Unser Beitrag bezieht sich vor allem auf die Photovoltaik, also auf die Versorgung mit Strom über Solarzellen in diesem Bereich."
Städte brauchen drei Viertel der Ressourcen
Die Städte wachsen, und sie wachsen rasant. Jährlich sind es rund 60 Millionen Menschen, die vom Land in die Stadt ziehen. Gab es 1950 mit New York nur eine Stadt mit mehr als zehn Millionen Einwohnern, so gibt es heute schon 25. Von den etwa sieben Milliarden Menschen lebt die Hälfte in Metropolen, im Jahr 2050 werden es zehn Milliarden sein.
Städte belegen zwar nur rund zwei Prozent der Erdoberfläche, verbrauchen aber drei Viertel aller Ressourcen, stoßen gigantische Wolken von Treibhausgasen aus, produzieren Milliarden Tonnen Müll und ganze Ströme giftiger Abwässer. Die Wasser- und Nahrungsversorgung ihrer Bewohner beansprucht ungeheure Flächen. London etwa braucht die 125-fache Fläche seines Stadtgebiets, um seine Bewohner mit dem Nötigsten zu versorgen.
"Wenn wir die Studien der OECD herannehmen und wir würden bis 2030 einfach so weitermachen mit unserer Energieversorgung wie heute, bräuchten wir 1,7 Erden", sagt Bullinger. "Also da müssen wir uns überlegen, wo 0,7 Erdkugeln gefunden werden, um das zu versorgen. Klar ist, so kann es nicht weitergehen."
Die ökologisch nachhaltige Stadt der Zukunft
Unter dem Titel "Morgenstadt" versammelt Bullinger eine Fülle von Ideen, Projekten und Szenarien für die ökologisch nachhaltige Stadt der Zukunft - und präsentiert Innovationen und Lösungsvorschläge für ganz unterschiedliche Bereiche: Energie, Wasser, Bauen und Wohnen, Ver- und Entsorgung, Mobilität, Kommunikation oder Arbeitswelt. Fest steht: Die Morgenstadt ist eine High-Tech-Stadt - und in der Regel kein Reißbrett- oder Retortenprodukt wie "Masdar City", sondern die umgebaute Stadt von heute.
"Und eine Stadt umbauen dauert bei uns nicht zehn Jahre wie in China, das kann bis zu hundert Jahre dauern", meint Bullinger. "Wir müssen Leuchtturmprojekte machen und nun beginnen, in großen Städten Stadtteile oder kleinere Städte ganz - also Morgenstädte - zu bauen nach unterschiedlichen Mustern, so wie heute die Städte unterschiedlich sind. Eine Morgenstadt wird eine fast CO2-freie Stadt sein, vollständig versorgt mit regenerativen Energien, mit anderen Mobilitätskonzepten - und jetzt kommt's: hoffentlich mit wesentlich besseren Arbeits- und Lebensbedingungen als wir heute haben. Ich sage Ihnen ein Beispiel: Früher haben wir gesagt, die Fabriken müssen aus der Stadt raus. Die machen Krach, die machen Schmutz, die haben Emissionen. Also fahren wir heute weite Wege an unsere Arbeitsplätze und wieder zurück. Es gibt heute noch solche Fabriken. Aber wir haben heute viele Fabriken, die machen keinen Krach mehr, die stinken nicht mehr, sind nicht problematisch, die könnten die auch downtown entsprechend einrichten, und dann können sie mit den Hausschuhen zum Arbeitsplatz gehen."
Längst machbar
Manches von dem, was das Buch beschreibt, klingt wie Science-fiction - und ist doch längst entwickelt und praxistauglich, vieles in Pilotprojekten erprobt. Die "Morgenstadt" wird von elektrischen Wärmepumpen und Blockheizkraftwerken versorgt. Ihre Häuser, mit effizienterer Dämmung, neuartigen Fenstern, Photovoltaikanlagen und Lüftungen mit Wärmerückgewinnung, verbrauchen keine Energie mehr, sondern erzeugen welche.
Carsharing, PKWs ohne Verbrennungsmotor und eine enge Vernetzung von privaten und öffentlichen Verkehrsmitteln sorgen für saubere, störungsfreie Mobilität, unterstützt von sogenannten "AutoTrams" und Smart-Way-Apps. Produkte werden nach Gebrauch zerlegt, neue Trenn- und Sortiertechniken sorgen dafür, dass alles wiederverwendet und nichts zu Müll wird. Stationäre Büros und feste Arbeitszeiten verlieren durch moderne Informationstechnologien an Bedeutung, mobile Roboter werden immer wichtiger.
Intelligente "Ambient Assisted Living"-Systeme und Geräte mit "semantischem plug & play" sollen das Leben in den eigenen vier Wänden bequemer machen. Von automatischen Staubsaugern, Putzrobotern und "sich selbst reinigenden Oberflächen mit Lotuseffekt" ist die Rede, von "intelligenten Arzneischränken" und Fenstern, die tags als Solarzellen und nachts als Beleuchtung fungieren. Es gibt energiesparende Biofliesen aus Pflanzenöl und mikroperforierte Folien zum Licht- und Lärmschutz. In der Morgenstadt werden Hausdächer zu Feldern für "Urban Farming", Autos zu rollenden Internetusern und Personen zu Sensoren. Eine zentrale Rolle wird bei alledem die Informations- und Kommunikationstechnik spielen - und da das weiterentwickelte Smartphone.
"Heute kommunizieren wir als Nutzer mit dem Internet. In der Zukunft werden auch Dinge mit dem Internet kommunizieren. Um ein simples Beispiel zu sagen: Wenn man das will, dann kann also die Waschmaschine, bevor sie sich einschaltet, erst ins Internet gucken, wie ist denn gerade der Preis, und sehen, in einer halben Stunde ist er billiger, und hat dann vom Benutzer eingegeben, ob die Toleranz erlaubt ist oder nicht. Wir werden die Smartphones zum Steuern benutzen. Wir haben jetzt gerade ein Projekt abgeschlossen mit Elektrofahrzeugen, die finden sie irgendwo in der Stadt, dann können sie fahren. Ja wie finde ich das Auto? Das finde ich über mein Handy. Ich muss das Auto starten, ich werde mich also einloggen, meinen Code angeben, sicherstellen, dass ich zahlen werde, krieg dann den Code zugespielt, kann das Auto starten..."
Potenzielle Lösungsansätze
"Morgenstadt", das Buch, das Hans-Jörg Bullinger zusammen mit der Journalistin Brigitte Röthlein verfasst hat, zeigt, was in Zukunft alles möglich, wenn auch vielleicht nicht unbedingt nötig sein wird - viele praktische, verblüffende, energiesparende Technologien, einige eher abstrus klingende Spielereien inklusive. Es entwirft keine Totalvision der zukunftsfähigen Metropole, keinen Masterplan der Morgenstadt, es beleuchtet vielmehr einzelne Facetten, zeigt potenzielle Lösungsansätze auf, "Optionspfade", wie Bullinger sagt, der davon überzeugt ist: Die "Morgenstadt" wird nicht zum Nulltarif zu haben sein - und nicht nur für ihre Erbauer, sondern auch für ihre Bewohner eine Herausforderung sein. Der Umbau der Städte: Er wird teuer - und langwierig:
"Unsere Studie war auf 2050 hin orientiert. Aber das wird nicht erfolgen, dass wir 2049 beschließen, das zu machen. Sondern jetzt müssen wir anfangen umzubauen. Und dann müssen wir wissen, wo wir hinwollen. Das größte Problem ist die Frage: Wie kriegen wir einen Konsensprozess zum Umbau hin? Wie gelingt es uns, die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen ins Gespräch zu bringen? Das war unser Gedanke bei der 'Morgenstadt'."
Die Morgenstadt: "Ein Ort, an dem sich die Zukunft unseres Globus entscheiden kann: Bühne für soziale Hoffnungen und Enttäuschungen ebenso wie Experimentierfeld für Neuerungen, Chance für unkonventionelle Lösungen in vielen Bereichen", schreiben die Autoren von "Morgenstadt", die eine Vielzahl von Thesen und Themen vorstellen, meistens aber nur kurz und knapp, den Fokus stets auf der Technik.
Manche Antwort bleiben sie schuldig. Welche Akteure übernehmen die Verantwortung für die Verwandlung der Städte? Wie soll die propagierte Bürgerbeteiligung aussehen? Welchen Platz behält das Alte, die historischen Plätze, Gebäude und Straßen? Was - ungefähr - kostet so eine "Morgenstadt" - und wer kann sich das Leben in ihr überhaupt leisten?
Wird die Retortenstadt "Masdar City", die 2025 fertig sein soll, die erste echte "Morgenstadt" sein? Oder ist diese Stadt nichts als ein unsinniges Prestigeobjekt, dessen Kosten in keinem Verhältnis zum Nutzen stehen, wie manche Kritiker monieren, so klimaneutral und ökologisch wertvoll wie ein Formel-1-Rennen in der Wüste? Möglicherweise ist Masdar City beides: die richtige Stadt - nur am falschen Ort.
Service
Hans-Jörg Bullinger, Brigitte Röthlein, "Morgenstadt. Wie wir morgen leben. Lösungen für das urbane Leben der Zukunft", Hanser Verlag
Hanser Verlag