"Amazonas" bei netzzeit

Das großangelegte Musiktheaterprojekt "Amazonas" wurde unter der Federführung der beiden Künstler Peter Ruzicka und Peter Weibel sowie des Soziologen Laymert Garcia dos Santos bei der Münchener Biennale 2010 uraufgeführt. Nun sind zwei der drei Teile im Rahmen des netzzeit-Festivals "Out of control" in Wien zu sehen.

Kulturjournal, 24.04.2013

Im Jahr 1595 brach der Entdecker Sir Walter Raleigh mit vierzig Männern auf, um den Orinoko zu erkunden. Sein Expeditionsbericht wird im ersten Teil des Musiktheaterprojekts "Amazonas" einer grundlegenden Analyse unterzogen: Wenn Raleigh von der paradiesischen Landschaft und der Einfachheit seiner Bewohner schreibt, nimmt er bereits jenes koloniale Denken vorweg, mit dem die westliche Kultur in den folgenden Jahrhunderten ihre Eroberungsfeldzüge rechtfertigen sollte: Natur sei durch Kultur zu ersetzen, die Menschen müssten in Kategorien eingeteilt, ansässige Kulturen vernichtet werden.

"Tilt", also "Kippen", lautet der Untertitel dieses ersten Teils der Amazonas-Oper. Raleighs Reisebericht ist mit aggressiver und geräuschvoller, dann wieder romantisch anmutender Musik unterlegt. Sie stammt vom deutschen Komponisten Klaus Schedl. Ihm war es wichtig, die Gier der westlichen Kultur herauszuarbeiten, die sich nicht nur in Kolonialismus und Konsum, sondern auch in Wissenschaft und Kunst wiederfinde.

Yanomami im Mittelpunkt

Geht es im ersten Teil des Amazonas-Projekts um diese westliche Weltsicht der Entwicklung, des Besitzes und ständigen Fortschritts, so ändert sich die Perspektive im weiteren Verlauf des Abends radikal. Dann nämlich treten die Yanomami in den Mittelpunkt des Geschehens, die Ureinwohner des Amazonasgebiets, die im brasilianisch-venzolanischen Grenzgebiet leben. Zwei Reisen führten einige der zahlreichen am Opernprojekt Beteiligten in dieses Gebiet - konkret ins Dorf Watoriki. Einer der Mitreisenden war der Regisseur Michael Scheidl, künstlerischer Leiter des Wiener Musiktheaters "netzzeit".

Scheidl hat das Musiktheater-Projekt künstlerisch weiterentwickelt und bringt es nun im Rahmen des netzzeit-Festivals "Out of control" auf die Bühne. Im Amazonas stieß der Regisseur auf eine Kultur, die sich von der westlichen eklatant unterscheide: Es gebe keinen Besitz und keine Namen; das Individuum trete hinter die Gemeinschaft zurück; zudem seien die Yanomami eine schriftlose Kultur, erklärt Scheidl. Die Hälfte ihres Lebens verbringen die Menschen in Finsternis - am Äquator ist es von 18 bis 6 Uhr dunkel. Folglich spielt die akustische Orientierung im Lebensraum der Yanomami eine wichtige Rolle.

Labyrinth der Dunkelheit

Im zweiten Teil des Musiktheater-Projekts "Amazonas" steht auch das Publikum vor der Aufgabe, sich im Dunkeln akustisch zurechtzufinden. Die Bühne ist ein Labyrinth aus Stofftüchern, in dem sich Publikum wie auch Sänger, Tänzer und Schauspieler bewegen, während von überall her die Livemusik eines Kammerorchesters, komponiert vom Brasilianer Tato Taborda, sowie Klangsamples erschallen.

Freilich konnte das Musiktheater-Projekt nur mit aktiver Unterstützung der Yanomami selbst realisiert werden, ist das Wissen über diese Kultur doch nirgends schriftlich überliefert. Seit 20 Jahren leben die Yanomami in einem geschützten Territorium, dennoch ist ihr Lebensraum durch die industrielle Abholzung des Regenwalds bedroht. Kunstprojekte wie "Amazonas", die die Aufmerksamkeit des Westens auf die Indigenen lenken, können da nur hilfreich sein.

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