Wie wir das Richtige tun
Gerechtigkeit
Michael Sandel ist Kult, zumindest in Harvard. Woche für Woche quetschen sich 1.200 Studierende in die "Sanders Theater Memorial Hall", einen kathedralenartigen Monumentalbau, um die Vorlesungen von Amerikas gegenwärtig einflußreichstem Moralphilosophen zu hören.
8. April 2017, 21:58
Er praktiziere in seinen Lehrveranstaltungen "Hebammenkunst", erklärt Sandel. Es gehe ihm nicht darum, abstrakte Theorien herunterzudozieren; vielmehr trete er mit seinen Studierenden in eine Art "sokratischen Dialog", in dem man gemeinsam nach philosophischen Antworten auf Probleme der realen Welt suche.
"Gerechtigkeit", Michael Sandels jüngstes Buch, wird als elaborierte Antwort auf die brennenden Fragen unserer Zeit gehandelt, als philosophisches Vademekum für politische Sinnsucher in Zeiten gewaltiger Umverteilungsprozesse von Unten nach Oben. Um es gleich vorwegzunehmen: Genau das ist Sandels Bestseller nicht.
Der "Kommunitarist"
Es handelt sich um die Buchversion des Sandelschen Einführungskurses für Undergraduates in Harvard, und wer sich in leicht fasslicher Form über die Gerechtigkeitskonzeptionen von Aristoteles, Kant und John Rawls informieren möchte und zugleich Erhellendes über Utilitarismus und Libertarianismus erfahren möchte, ist mit diesem Buch bestens bedient. Philosophische Feinspitze und Handlungsanleitungssucher für den politischen Kampf um eine bessere Welt werden von Sandels 420-Seiten-Werk eher enttäuscht sein.
Im Spektrum des politisch-akademischen Diskurses in den USA gilt Michael Sandel als "Kommunitarist". Im Gegensatz zum radikalen Liberalismus, der die gesellschaftlich segensreichen Auswirkungen des Egoismus preist, im Gegensatz zum Liberalismus setzen Kommunitaristen wie Sandel auf die soziale Einbindung und am Gemeinwohl orientierte Verantwortung des Einzelnen.
"In der jüngsten Vergangenheit gibt es eine Tendenz anzunehmen, dass die freie Entwicklung der Märke zum gemeinschaftlich Guten und zu einer gerechten Gesellschaft führt", sagt Sandel. "Das ist ein Trugschluss, wiewohl man sagen muss, dass dieser Glaube in den USA um vieles weiter verbreitet ist als in Europa. Auf jeden Fall kann Demokratie nicht allein funktionieren auf der Basis eines an Märkten orientierten Individualismus. Genauso wichtig ist die Orientierung am Gemeinwohl. Weil ich diese Auffassung vertrete, werde ich manchmal als 'Kommunitarist' bezeichnet. Ich bin jedenfalls der Meinung, dass wir die Orientierung auf das Gemeinwohl nicht trennen können von der Frage, wie wir unsere Gesellschaft organisieren."
Noch immer keine Debatte über Regulierung
In den USA sind die Fragen, die Michael Sandel diskutiert, von enormer Brisanz, gibt es doch dort, von der Tea Party bis hin zu radikalen "Libertarians", eine breite Front von Laisser-faire-Fundamentalisten, die staatliche Intervention für Teufelszeug und sozialstaatlich-solidarische Ansätze in der Wirtschaftspolitik für eine Vorform stalinistischen Terrors halten. In Europa mit seinen wohlfahrtsstaatlichen Traditionen dagegen rennt Sandel ohnehin offene Türen ein, was seinem Buch einiges an ideologischer Sprengkraft nimmt.
Mit dem Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 sei die neoliberale Party noch lange nicht zu Ende gegangen, diagnostiziert Micheal Sandel: "Als die Finanzkrise 2008 losbrach, dachte ich, der Aufstieg des Neoliberalismus sei nun vorbei. In den drei Jahrzehnten zuvor hatten wir ja so etwas wie einen Triumphalismus marktradikaler Ideen erlebt. Ich dachte, das sei jetzt zu Ende. Aber: Ich habe mich geirrt. Es gab zwar eine kurze Debatte über Regulierung, aber wir haben bisher noch keine breite Debatte darüber erlebt, wo Märkte das gemeinschaftlich Gute fördern und in welchen gesellschaftlichen Bereichen sie nichts zu suchen haben. Genau diese Debatte versuche ich anzuregen und zu befeuern."
Ausgelaugte Parteien
Michael Sandel plädiert für eine Remoralisierung der Politik. In den USA wie in Europa ziehe sich das obere Drittel der Gesellschaft immer mehr aus dem öffentlichen Raum zurück, konstatiert der Harvard-Philosoph, in Privatschulen, Vierstern- und Fünfstern-Hotelanlagen und Gated Communities aller Art. Das sei der falsche Weg, so Sandel. Gerade die gebildete und gut ausgebildete Mittelschicht müsse wieder vermehrt Werte wie Solidarität, Respekt und Verantwortung für das Gemeinwohl in die öffentliche Debatte einbringen.
Als junger Mann, so erzählt Michael Sandel, habe er eine Zeitlang mit dem Gedanken gespielt, Politiker zu werden, dann aber habe er sich, in Oxford, während des Studiums, rettungslos in die Philosophie verliebt:
"Wäre ich als junger Mann tatsächlich in die Politik gegangen, hätte ich es wohl in der 'Demokratischen Partei' versucht. Aber heute sehe ich die Sache anders. Ich glaube, dass die etablierten Parteien - sowohl in den USA wie in vielen Demokratien Europas - keine überzeugenden Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit mehr haben. Was ich als Philosoph versuche, ist, eine öffentliche Debatte über diese Zukunftsfragen anzustoßen. Einer der Gründe für die Frustration über die etablierte Politik ist, dass die großen Parteien in den westlichen Demokratien ideologisch ausgelaugt und erschöpft sind. Man scheint heute vor allem auf technokratische und bürokratische Antworten zu setzen. Mit meinen beiden jüngsten Büchern möchte ich nicht nur die Politik, sondern die Bürger ganz allgemein herausfordern, die aktuellen politischen Probleme im Lichte philosophischer Prinzipien zu betrachten. Ich denke, das könnte den politischen Diskurs befeuern und unsere Demokratien besser machen."
Michael Sandel gehört zu den "Guten", man hört es. Mit "Gerechtigkeit" hat der jugendlich wirkende 60-Jährige ein populäres Sachbuch im besten Sinn vorgelegt, leicht verständlich und anregend in vielerlei Hinsicht. Als Pflichtlektüre für den politisch interessierten Menschen allerdings kann man den Band, zumindest als europäischer Leser, nicht bezeichnen.
Service
Michael J. Sandel, "Gerechtigkeit - Wie wir das Richtige tun", aus dem Englischen übersetzt von Helmut Reuter, Ullstein-Verlag
Ullstein Verlag
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