Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist
Nachdem uns Pierre Bayard bereits darüber aufgeklärt hat "Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat", widmet er sich in seinem neuesten Werk dem Nichtreisen: "Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist" versteht sich als Ratgeber für all jene, die lieber zuhause bleiben und trotzdem mitreden wollen.
8. April 2017, 21:58
Die Reisebürobesitzer dieses Landes werden über Pierre Bayards Buch nicht sonderlich erfreut sein, denn, wenn es nach dem französischen Autor geht, liegt das Exotische ganz nah. Ohne einen Fuß vor die Tür zu setzen, können wir fremden Kulturen begegnen und dann auch noch vergnüglich über unsere vermeintlichen Erlebnisse plaudern.
Die Vorbilder dafür sind zahlreich: Da wäre Marco Polo, dessen angebliche Reiseberichte aus dem fernen Osten unsere Vorstellungen des asiatischen Raums bis heute prägen. Oder Karl May, dessen imaginierter Wilde Westen für viele mehr Realität als Fiktion geworden ist. Und da wäre natürlich noch Immanuel Kant, ein eifriger Leser von Reiseberichten, der sich in London oder Italien sehr gut auskannte und an der Universität einen Kurs in physischer Geografie abhielt. Es ist bekannt, dass Kant seine Geburtsstadt Königsberg nie verlassen hat. Er wollte so viel über so viele Länder wissen, dass er eben deshalb keine Zeit zum Reisen hatte. Für Pierre Bayard ist Kant der Inbegriff des "sesshaften Reisenden", dem er seine Abhandlung auch gewidmet hat.
Arten des Nichtreisens
Im ersten Teil des Buches stellt der Autor die vier verschiedenen Arten des Nichtreisens vor: Orte, die man nicht kennt, Orte, die man überflogen hat, Orte, die man vom Hörensagen kennt, und Orte, die man vergessen hat.
Eröffnet wird der Reigen der Nichtreisenden mit einer ausführlichen Beschreibung Marco Polos, jenem Entdecker, der den Italienern von seinen ausgedehnten Reisen nach Asien nicht nur die Spaghetti mitgebracht haben soll, sondern auch eine akribische Beschreibung des asiatischen Raums.
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Angaman ist eine große Insel. Das Heidenvolk hat keinen König und lebt wie die wilden Tiere. Ich will euch diese seltsame Rasse schildern. Die Menschen haben Köpfe wie Hunde und Zähne und Augen ebenfalls wie Hunde. Ihr könnt mir glauben: sie sehen aus wie Bulldoggen. Es gibt viele Gewürze dort. Die Eingeborenen sind äußerst grausam. Sie sind Menschenfresser; jeden, der nicht ihres Stammes ist, verzehren sie.
Historiker sind sich bis heute uneinig, ob Marco Polo den Fernen Osten jemals bereist hat oder ob seine Berichte irgendwo zwischen Italien und Konstantinopel entstanden sind. Dass der mittelalterliche Entdecker bei seinen Beschreibungen Chinas die chinesische Mauer kein einziges Mal erwähnt hat, darf einen durchaus stutzig machen. Pierre Bayard kann Marco Polos Schilderungen dennoch einiges abgewinnen.
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Marco Polos Berichte funktionieren zu seiner Zeit deshalb so gut, weil sie einer bestimmten Erwartung entsprechen und sich in ein kollektives Imaginäres einschreiben, wo sich niemand wundert, bei seiner Lektüre auf Menschen mit Hundeköpfen zu stoßen. Und sie werden noch heute als glaubwürdige Dokumente aufgefasst, während sie ganz offensichtlich mit Imaginärem und Fantastischem nur so gespickt sind. Sie bieten eine Möglichkeit, außerhalb der Zwänge der Wissenschaft einen Raum des gemeinsamen Träumens aufzubauen.
Der Schummel-Journalist
Zwänge spielen auch im zweiten Teil von "Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist" eine Rolle. Hier widmet sich der Autor Menschen, die die Aussage des Buchtitels bereits zur Perfektion gebracht haben, und zwar weil sie durch äußere Umstände dazu gezwungen waren. So etwa der amerikanische Journalist Jayson Blair. Er verfasste für die renommierte "New York Times" zahlreiche Reportagen von Orten, an denen er nie gewesen war, berichtete von Menschen, die er nie getroffen hatte.
Seine Plagiate blieben nicht lange unentdeckt. Davor wurden sie jedoch als journalistische Höchstleistungen gepriesen. Als Gründe führte der aufstrebende Jungredakteur seine psychische Verfassung, seine Drogen- und Alkoholsucht und den zunehmenden Sensationsdruck bei der "New York Times" an.
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Man kann es Jayson Blairs Kollegen nicht verübeln, dass sie ihm die Tür gewiesen haben. Dennoch wirft die Ausdruckskraft seiner Artikel Fragen über den Begriff der Präsenz auf, die man einfach nicht vom Tisch wischen kann. Jayson Blair verletzt durch seine wiederholte Praxis als sesshafter Reisender mit Sicherheit die Grundregeln des Journalismus, verhält sich dabei aber zugleich als wahrer Schriftsteller.
Empfohlene Haltungen
Im dritten Teil dieses "Anti-Reiseführers" stellt der Autor dann einige praktische Ratschläge zur Verfügung. Er beschreibt "empfohlene Haltungen" für all jene, die fremde Kulturen zwar kennenlernen möchten, die eigentliche Reise aber nicht zwingend als intellektuelle Bereicherung verstehen. Hier trifft der Leser dann auch auf Karl May, dem nach Ansicht von Pierre Bayard in der europäischen Literaturgeschichte viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Mays Haltung stellt der Autor als ein "In der Zeit zirkulieren" dar.
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Karl May, der die Augen nicht starr auf den Wilden Westen gerichtet hält - die Gefahr besteht nicht, da er darauf verzichtet hat, ihn aufzusuchen -, sieht über den realen Ort hinaus. Und das Jenseits, das er dabei entdeckt, ist nicht nur ein Jenseits des Raumes, sondern auch der Zeit. Das tolerante Land, das er beschreibt - in dem Old Shatterhand und Winnetou ihr Blut tauschen und eine unmögliche Versöhnung suchen -, entspricht nicht dem realen Land, dem er begegnet wäre, wenn er sich persönlich dahin begeben hätte; es entspricht dem, was dieses Land potenziell ist und ein Jahrhundert später, wenn die an den Indianern verübten Verbrechen anerkannt sind, zumindest teilweise tatsächlich sein wird.
Wahrheit und Fiktion
"Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist" ist kein Ratgeber für Menschen, die ihre Smalltalk-Fähigkeiten aufpolieren wollen. Zwar regt Pierre Bayard den Leser durchaus dazu an, selbst hin und wieder in der Fantasie an fremde Orte zu reisen und auch davon zu berichten, der rote Faden des Buches ist jedoch ein anderer: Es geht dem Autor um das Verhältnis von Wahrheit und Fiktion. Bayard ist davon überzeugt, dass sich der sesshafte Reisende der Wahrheit über die Welt auch ohne Ortswechsel annähern kann.
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Die Orte, die man imaginiert, ermöglichen es, in uns selbst zu reisen, und die Reise in seinem Innern, wenn möglich in Gesellschaft, ist es, die den sesshaften Reisenden umtreibt, der aufmerksam ist für das, was fremde Kulturen ihm bringen können und was er dann in der Absicht, die Weltkenntnis voranzubringen, an andere weitergeben kann.
Pierre Bayards Buch nimmt den Leser nicht auf eine Reise um den Globus mit. Es verfolgt den sesshaften Nichtreisenden vielmehr durch die Literaturgeschichte, begleitet ihn durch Skandale in Wissenschaft und Journalismus. Bleibt zu hoffen, dass nicht allzu viele Menschen die Ratschläge des Autors auch in die Tat umsetzen, denn eines ist offensichtlich: auch das Nichtreisen und vor allem das Erzählen darüber wollen gelernt sein.
Service
Pierre Bayard, "Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist", aus dem Französischen übersetzt von Lis Künzli, Verlag Antje Kunstmann