Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist

Nachdem uns Pierre Bayard bereits darüber aufgeklärt hat "Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat", widmet er sich in seinem neuesten Werk dem Nichtreisen: "Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist" versteht sich als Ratgeber für all jene, die lieber zuhause bleiben und trotzdem mitreden wollen.

Die Reisebürobesitzer dieses Landes werden über Pierre Bayards Buch nicht sonderlich erfreut sein, denn, wenn es nach dem französischen Autor geht, liegt das Exotische ganz nah. Ohne einen Fuß vor die Tür zu setzen, können wir fremden Kulturen begegnen und dann auch noch vergnüglich über unsere vermeintlichen Erlebnisse plaudern.

Die Vorbilder dafür sind zahlreich: Da wäre Marco Polo, dessen angebliche Reiseberichte aus dem fernen Osten unsere Vorstellungen des asiatischen Raums bis heute prägen. Oder Karl May, dessen imaginierter Wilde Westen für viele mehr Realität als Fiktion geworden ist. Und da wäre natürlich noch Immanuel Kant, ein eifriger Leser von Reiseberichten, der sich in London oder Italien sehr gut auskannte und an der Universität einen Kurs in physischer Geografie abhielt. Es ist bekannt, dass Kant seine Geburtsstadt Königsberg nie verlassen hat. Er wollte so viel über so viele Länder wissen, dass er eben deshalb keine Zeit zum Reisen hatte. Für Pierre Bayard ist Kant der Inbegriff des "sesshaften Reisenden", dem er seine Abhandlung auch gewidmet hat.

Arten des Nichtreisens

Im ersten Teil des Buches stellt der Autor die vier verschiedenen Arten des Nichtreisens vor: Orte, die man nicht kennt, Orte, die man überflogen hat, Orte, die man vom Hörensagen kennt, und Orte, die man vergessen hat.

Eröffnet wird der Reigen der Nichtreisenden mit einer ausführlichen Beschreibung Marco Polos, jenem Entdecker, der den Italienern von seinen ausgedehnten Reisen nach Asien nicht nur die Spaghetti mitgebracht haben soll, sondern auch eine akribische Beschreibung des asiatischen Raums.

Historiker sind sich bis heute uneinig, ob Marco Polo den Fernen Osten jemals bereist hat oder ob seine Berichte irgendwo zwischen Italien und Konstantinopel entstanden sind. Dass der mittelalterliche Entdecker bei seinen Beschreibungen Chinas die chinesische Mauer kein einziges Mal erwähnt hat, darf einen durchaus stutzig machen. Pierre Bayard kann Marco Polos Schilderungen dennoch einiges abgewinnen.

Der Schummel-Journalist

Zwänge spielen auch im zweiten Teil von "Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist" eine Rolle. Hier widmet sich der Autor Menschen, die die Aussage des Buchtitels bereits zur Perfektion gebracht haben, und zwar weil sie durch äußere Umstände dazu gezwungen waren. So etwa der amerikanische Journalist Jayson Blair. Er verfasste für die renommierte "New York Times" zahlreiche Reportagen von Orten, an denen er nie gewesen war, berichtete von Menschen, die er nie getroffen hatte.

Seine Plagiate blieben nicht lange unentdeckt. Davor wurden sie jedoch als journalistische Höchstleistungen gepriesen. Als Gründe führte der aufstrebende Jungredakteur seine psychische Verfassung, seine Drogen- und Alkoholsucht und den zunehmenden Sensationsdruck bei der "New York Times" an.

Empfohlene Haltungen

Im dritten Teil dieses "Anti-Reiseführers" stellt der Autor dann einige praktische Ratschläge zur Verfügung. Er beschreibt "empfohlene Haltungen" für all jene, die fremde Kulturen zwar kennenlernen möchten, die eigentliche Reise aber nicht zwingend als intellektuelle Bereicherung verstehen. Hier trifft der Leser dann auch auf Karl May, dem nach Ansicht von Pierre Bayard in der europäischen Literaturgeschichte viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Mays Haltung stellt der Autor als ein "In der Zeit zirkulieren" dar.

Wahrheit und Fiktion

"Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist" ist kein Ratgeber für Menschen, die ihre Smalltalk-Fähigkeiten aufpolieren wollen. Zwar regt Pierre Bayard den Leser durchaus dazu an, selbst hin und wieder in der Fantasie an fremde Orte zu reisen und auch davon zu berichten, der rote Faden des Buches ist jedoch ein anderer: Es geht dem Autor um das Verhältnis von Wahrheit und Fiktion. Bayard ist davon überzeugt, dass sich der sesshafte Reisende der Wahrheit über die Welt auch ohne Ortswechsel annähern kann.

Pierre Bayards Buch nimmt den Leser nicht auf eine Reise um den Globus mit. Es verfolgt den sesshaften Nichtreisenden vielmehr durch die Literaturgeschichte, begleitet ihn durch Skandale in Wissenschaft und Journalismus. Bleibt zu hoffen, dass nicht allzu viele Menschen die Ratschläge des Autors auch in die Tat umsetzen, denn eines ist offensichtlich: auch das Nichtreisen und vor allem das Erzählen darüber wollen gelernt sein.

Service

Pierre Bayard, "Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist", aus dem Französischen übersetzt von Lis Künzli, Verlag Antje Kunstmann