Will Gompertz über 150 Jahre moderne Kunst
Was gibt's zu sehen?
Mit moderner Kunst verhält es sich ein wenig so wie mit Mathematik: So wie es gesellschaftlich akzeptiert ist, zu sagen, man könne leider gar nicht rechnen, so wenig outet man sich als Banause, wenn man auf einer Party sagt, man habe keine Ahnung von moderner Kunst.
8. April 2017, 21:58
Die meisten Leute können nicht verstehen, so Will Gompertz, dass etwas, das dem Anschein nach jedes Kind könne, Kunst sein soll. Mit Blut Leinwände vollspritzen? Suppendosen ausstellen? Ein Urinal aufhängen? Da beschleicht viele das Gefühl, das Ganze sei nur ein Scherz und sie würden einem Schwindel aufsitzen. Gompertz ist als profunder Kenner der Kunstgeschichte natürlich ganz und gar nicht dieser Meinung. Und so erzählt er in seinem Buch die Geschichte der modernen Kunst.
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Es ist eine tolle Geschichte, und ich hoffe, sie wird Ihren nächsten Besuch bei einer Ausstellung moderner Kunst etwas weniger einschüchternd und dafür umso interessanter machen. Sie beginnt ungefähr so..."
Marcel Duchamps Urinal
Gompertz beginnt aber nicht bei den Anfängen, sondern im Jahr 1917. Mit Marcel Duchamp, der heute als der wohl wichtigste Künstler des letzten Jahrhunderts gilt. Zwei Tage vor Eröffnung der größten Ausstellung für moderne Kunst, die die USA bis dahin gesehen hatte, lieferte er unter dem Pseudonym R. Mutt sein Kunstwerk "Fontaine" ab. Fontaine ist nichts anderes als ein auf den Kopf gestelltes Porzellan-Urinal der Marke Bedfordshire, auf das links unten mit großen schwarzen Buchstaben der Name R. MUTT und die Jahreszahl 1917 gemalt ist. Mit einer einzigen Geste fegte Duchamp die scheinbar ewig gültige Mythen des Kunstbetriebes vom Tisch. Alles kann Kunst sein und jeder ein Künstler. Und wenn ein Künstler behauptet, dass etwas Kunst ist, dann ist es das.
Im Dezember 2004 wählten die 500 wichtigsten Leute des englischen Kunstbetriebs Duchamps "Fontaine" zum "einflussreichsten Kunstwerk des 20. Jahrhunderts". Nicht zu Unrecht, wie Gompertz schreibt:
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Die Ideen, die dieses Werk verkörperte, übten direkten Einfluss auf verschiedene wichtige Kunstbewegungen aus, darunter Dadaismus, Surrealismus, Abstrakter Expressionismus, Pop-Art und Konzeptkunst. Bei den zeitgenössischen Künstlern von heute, von Ai Weiwei bis Damien Hirst, ist Duchamp fraglos der Künstler, der am meisten verehrt und auf den am häufigsten Bezug genommen wird.
Raus aus dem Atelier
So wie es unmöglich ist, den Beginn der Moderne genau zu datieren, so unmöglich ist es, den genauen Geburtstermin der modernen Kunst festzulegen. Denn jede Bewegung - und das zeigt Gompertz in seinem hervorragenden Buch deutlich - baut auf einer anderen Bewegung auf. Und jeder Bruch mit der Tradition kann nur deswegen erfolgen, weil man sich dieser Tradition bewusst ist.
Für Gompertz beginnt die moderne Kunst im Jahre 1820 mit den Prä-Impressionisten. Bis dahin war es Usus gewesen, dass sich Künstler auf die Mythologie bezogen, auf die religiöse Ikonografie, oder Schlachtenbilder anfertigten und Herrscher verherrlichten. Normale Menschen bei normalen Tätigkeiten abzubilden, beim Picknicken, Trinken, Spaziergehen, so etwas tat man ganz einfach nicht, so Gompertz. Die Impressionisten und ihre Vorläufer brachen nicht nur mit dieser Tradition, sie rissen auch die Wand zwischen Atelier und Wirklichkeit ein.
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Viele andere Künstler waren zwar schon ins Freie gegangen, um ihre Motive zu beobachten und zu skizzieren, aber sie pflegten danach in ihre Ateliers zurückzukehren und ihre Beobachtungen in fiktionale Szenen einzubauen. Die Impressionisten verbrachten die meiste Zeit im Freien, wo sie ihre Gemälde des modernen Stadtlebens begannen und beendeten.
Und weil die Impressionisten neue Themen aufgriffen, mussten sie auch einen neuen Malstil finden.
In Bezug gesetzt zu Gesellschaft und Politik
Es ist ein großes Verdienst dieses Buches, dass Will Gompertz die Kunst immer in Bezug zur Gesellschaft und zur Politik stellt. Als in Zürich im Jahre 1916 einige zornige junge Männer den Dadaismus ins Leben riefen, war das eine Antwort auf den gerade stattfindenden Ersten Weltkrieg. Die Aktionen im Zürcher Cabaret Voltaire endeten meistens in Tumulten. Der Sinnlosigkeit des Krieges konnte die Kunst nur ihre eigene Sinnlosigkeit gegenüberstellen.
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Drei verschiedene Gedichte gleichzeitig in drei verschiedenen Sprachen vorzulesen erscheint - oberflächlich - sehr albern. Aber solche Aktionen waren als beißende Kritik gegen den Krieg gedacht. Diese Simultaneität war ein symbolischer Akt. Sie war ein Verweis auf die Menschen, die ihr Leben in der Schlacht ließen - Menschen unterschiedlicher Nationalitäten, auf verschiedenen Seiten, die am gleichen Ort zur gleichen Zeit miteinander starben, auf ihrer tragischen Reise nur vom schrecklichen Kriegslärm begleitet.
Im Hier und Jetzt
Vom Impressionismus über den Kubismus, den Futurismus, über Dadaismus, Surrealismus, Abstrakten Expressionismus, Pop-Art, Konzeptkunst und Miminal Art kommt Gompertz ins Hier und Jetzt, in eine Phase der Kunst, die noch keinen Namen hat, die Gompertz aber mit "Ruhm und Reichtum" betitelt, denn seit Beginn der 1990er Jahre ist Kunst mehr und mehr zu einer gefragten Anlageform geworden. Und niemand spielt dieses Spiel dermaßen gekonnt wie Damien Hirst.
Im September 2008 tat der Brite etwas Unerhörtes. Er verkaufte seine mehr als 200 neuen Werke nicht wie gewohnt über seine Galeristen, nein, er lieferte sie direkt bei Sotheby's ein, um den Gewinn alleine einzustreifen. Am Montag, dem 15. September begann die Auktion und Hirsts Werke verkauften sich prächtig. Jenseits des Atlantiks musste am gleichen Tag die Bank Lehman Brothers Insolvenz anmelden.
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Die Tatsache, dass die Auktion und die Finanzkrise gleichzeitig stattfanden, ist bedeutsam. Ungewollt markiert sie das Ende einer Ära des Kapitalismus und - so meine These - das Ende einer Ära der modernen Kunst.
Service
Will Gompertz, "Was gibt's zu sehen? 150 Jahre moderne Kunst", aus dem Englischen übersetzt von Sofia Blind, DuMont Verlag
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