Bibelkommentar zu Matthäus 6, 5 - 7, 13 - 15

Wer betet, legt sich fest. Wer betet, wird leidenschaftlich. Wer betet, hat es in sich, denn er weiß, was er will. Er hat Prioritäten gesetzt.

Das Gegenteil eines Gebets wäre eine Geste der Gleichgültigkeit. Abwinken oder Schulterzucken. Wer betet, zeichnet in seine Gegenwart einen Fluchtpunkt ein. Indem er in konzentrierter Form zusammenfasst, was ihn bewegt und wohin es ihn bewegt. Wer betet, wird jemand Bestimmtes, nämlich jemand, dem dieses und jenes auf dem Herzen liegt. Wer betet, macht etwas mit sich, er nimmt Einfluss auf seine Identität.

Deshalb sollte jeder, der betet, wissen, was er tut. Ein Gebet kann so stark sein, dass Menschen die Erfahrung machen, sich im Gebet zu verändern. Für viele ist das die entscheidende Motivation, zu beten. Sie möchten aus dem Gebet als jemand hervorgehen, der klarer sieht, gestärkt ist, Hoffnung spürt oder zu einer Entscheidung steht.

II. Problematisierung und Zuspitzung

Diese Wirkung des Gebets fällt bei dem berühmtesten Gebet der Welt, dem Vaterunser, nicht aus. Im Gegenteil: Es ist die Antwort auf die Frage nach einer Gebetskultur, die den Menschen Mensch sein lässt. Die ihm hilft, als Mensch zum Vorschein zu kommen. Dazu gehört es nun einmal, zu klären, wohin man unterwegs ist, wo man ankommen will, wer mitgehen soll. Das heißt letztlich: Wer ich eigentlich bin.

Deshalb geht dem Vaterunser im 6. Kapitel des Matthäus-Evangeliums eine radikale Frömmigkeits- und Gebetskritik voraus, basierend auf der Frage: Wer wollt ihr eigentlich sein? Wie wollt ihr leben? Was erwartet ihr von eurem Glauben? Wie denkt ihr die Menschenbeziehung Gottes? In eurem Gebet zeigt sich’s. Passt also auf, wenn ihr betet! Damit euch euer Glaube nicht auf die Füße fällt wie bei Menschen, die sich wahlweise mit Unterwerfungsübungen und Schmeicheloffensiven an Gott wenden. Nach der Devise „viel hilft viel“. Tut euch das nicht an. Das seid ihr nicht. Vor Gott könnt ihr aufrecht stehen. Damit es so bleibt, sollt ihr so beten:

III. Vertiefung:

Vater unser. - Ihr seid mit Gott unmittelbar verbunden, bevor ihr etwas sagt, sogar ohne, dass ihr etwas sagt. Ihr müsst Gott nicht agitieren oder imponieren, als würde die Menschenbeziehung Gottes wackeln. Ihr seid mit ihm verwandt, habt Teil an seinem Geheimnis. Mehr geht nicht.

Geheiligt werde dein Name. - Über den Dingen wie sie sind, soll noch etwas drüber stehen, als Garant dafür, dass mich die Dinge nicht erschlagen. Jemand, der für mich bürgt, Gott, an dessen Seite ich Mensch sein darf. Sein Name ist Ausdruck meiner Freiheit und Würde. Meine Menschenversicherung. Dein Reich komme. - Wer das sagen kann, lässt „Luft nach oben“, hat Träume für die Zukunft, sieht eingefrorene Gegenwart auftauen. Mit ihrem Verlangen nach dem Reich Gottes erhalten sich Menschen die Neugier auf ihr Leben und sich selbst. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Diese Bitte ist auch das Echo auf die Erfahrung, aus mangelnder Selbsterkenntnis etwas „unbedingt“ gewollt zu haben, was gar nicht zu einem gehört.

Die übrigen vier Grundanliegen sind eine Schule elementaren Lebens. Tägliches Brot - Ausdruck für ein Leben, in dem nichts Substantielles fehlt. Das Aussprechen von Schuld und Vergebung als Ausdruck der Freiheit, sich ändern zu können. Die Bitte, nicht versucht, nicht in seinem Gewissen korrumpiert zu werden. Und in der Bitte um die Erlösung von dem Bösen wird die Sehnsucht konkret, ungefährdet Mensch sein zu können.

So kann man guten Gewissens beten. Das kann man ohne Sorge mit sich machen und dabei als Mensch zum Vorschein kommen: Leidenschaftlich leben und ohne Angst Stellung beziehen: vor sich selbst, vor den andern, vor Gott. Wer betet, hat es in sich.