Erzählungen von Nadine Kegele

Annalieder

Sie ist wieder einmal die einzige, die aus dem Rahmen fällt: Dass die Feier in Tracht stattfinden würde, hat ihr niemand gesagt. Oder wollte sie es nicht hören? Und so kreuzt Helene im Paillettenkleid auf der Hochzeit ihrer jüngeren Schwester auf.

Man starrt sie an - auch das noch, also ob sie nicht sonst schon genug zu ertragen hätte. Der Bräutigam war ihr langjähriger Geliebter und hätte vielleicht auch der Vater ihres Kindes werden können. Wenn da nicht Anna aufgetaucht wäre, sehr viel jünger als sie, halb so alt jedenfalls wie der ihr frisch angetraute Mann. Bei der Heirat ist Anna schwanger. Alle strahlen, auch Helene. Weil es so sein soll und muss.

Was sein könnte und was ist

Paillettenkleid oder Dirndl: Zwischen diesen beiden Polen pendeln die Erzählungen von Nadine Kegele. Der Band mit dem Titel "Annalieder" ist eine subtile und darin schmerzhafte Auseinandersetzung mit weiblichen Träumen und Projektionen, mit dem, was sein könnte und was dann tatsächlich ist.

Helene bleibt tapfer, sie hat von klein auf gelernt, sich zurückzunehmen, oder besser: sich abzuschotten und in Sicherheit zu bringen. Der Mutter ist nicht zu trauen, sie ist unglücklich und macht die drei Töchter zur Zielscheibe ihrer Verzweiflung und Wut. Die Mädchen haben sich zusammengeschlossen, immer auf der Hut vor den mütterlichen Launen und Abstürzen, vor plötzlich über sie hereinbrechenden Katastrophen. Und nun das, der Verrat der einstmals Verbündeten: Anna heiratet den Mann, den Helene liebt. Valerie, die dritte Schwester, hat sich ohnehin schon früher davongemacht und die Familie verstört zurückgelassen.

Das ganze Repertoire an Verletzungen

Das alles klingt nach großem Drama, nach Schlagertext und Gartenlaube. Aber eben dieser Welt dreht Nadine Kegele einen Strick. Ihre Erzählungen kommen fast beschwingt daher und haben eine ganz eigene Art von Komik, ehe sie dann ganz plötzlich ins Schreckliche, oft auch Skurrile kippen. Ein Halbsatz, und die Stimmung ist gedreht, ein weiterer Satz, und es geht weiter, als wäre nichts passiert.

Da ist die junge Frau, arbeitslos und ohne Perspektiven. Eine kleine Wohnung ist ihr geblieben und ihr Kontrabass, ein Erbstück - und vielleicht auch noch die große Liebe, auf die sie so sehr setzt. Mädchen mit Kontrabass, ein Fetisch für ihren Freund, den Mann, mit dem sie sich alles vorstellen kann. Doch für ihn ist sie eine Affäre. Guter Sex, aber mehr ist da nicht, wird ihr eröffnet, nichts jedenfalls, worauf man längerfristig zählen könnte. In ihrer Wohnung warten die Katzen und Tabletten.

Verrat, Missbrauch und Vergewaltigung, Lieblosigkeit, psychische Nötigung und Ausgrenzung. Alles da, was das Repertoire an Verletzungen ausmachen kann. Dazu die kümmerlichen Perspektiven, sich aus bürgerlichen Lebensmustern zu lösen und zu Selbstbestimmung und eben jener Macht zugelangen, die oft nur Männern vorbehalten ist.

Spiel mit Klischees

Zwölf Frauen, zwölf Stationen auf einem Kreuzweg, zwölf Versuche, die Rollenbilder zu sprengen. Diese "Annalieder" könnten gut und gern als Klagegesänge daherkommen, doch Nadine Kegele gelingt es, eben nicht in Sentimentalität abzustürzen.

Die Erzählung "Spreefiguren" ist einer dieser lakonischen Texte. Geschildert wird eine Fahrt mit der U-Bahn, mit scharfem Blick auf die Menschen, die ein- und austeigen: Da sind die obdachlose Alkoholikerin, der randalierende Borderliner oder der Businessman auf dem Weg nach Dubai oder Paris. Szenen aus dem Alltag, nichts Besonderes. Und mitten drin die Frau, schwanger von einem One-Night-Stand. Der Mann ist nicht frei, sie kennt seine Freundin. "Es gibt immer eine Lösung", weiß das Plakat am Bahnsteig.

Viele der Geschichten spielen mit den Klischees und bürsten sie gegen den Strich. Diese "Annalieder" lassen aufhorchen, weil sie so spröde sind, auch widerspenstig, durchbrochen von der einen oder anderen schalkhaften Wendung oder einem schnellen Witz. Nichts, was sich zügig lesen ließe und dann beiseite legen. Einmal kurz nicht hingehört, und man steht draußen und weiß nicht mehr, wie einem geschieht.

Das Wesentliche im Nebensatz

Nadine Kegele präsentiert uns eine sehr konzentrierte, durchkomponierte Prosa, in der das Wesentliche im Nebensatz steckt oder auch zwischen den Zeilen. Das Buch hat gerade einmal 111 Seiten, nicht viel und doch sehr viel, fast zu viel: Die zwölf Erzählungen sind kaum auszuhalten in der Dichte dieser Frauenschicksale, die kaum je ein gutes Ende nehmen. Kleine Fluchten sind oft nicht mehr als bloße Gedankenspiele.

Die Klippen des Lebens als selbstverständliche Aufgabe, der man sich zu stellen hat - ohne große Worte, ohne sich lange damit aufzuhalten oder darüber zu lamentieren: ein Thema, das Kegele stilistisch und formal originell angeht. Sie hält vieles in der Schwebe, hat ein Gespür für sicher gesetzte Effekte und den Umgang mit Verwirrung und Rätsel. Nichts ist, wie es scheint, auch das führen diese Erzählungen auf sinnliche Weise vor.

Das Verfahren, das Nadine Kegele für sich entwickelt hat, wird zum wiederkehrenden Muster, zu ihrer Eigenart. Als einzelnes Gebilde ist fast jede dieser Erzählungen stimmig gestaltet: präzise gebaut, genau in der Sprache, leicht im Tonfall. Das Buch lässt eine Linie erkennen, der die Autorin treu bleibt. Thema mit Variation, so könnte man den Band nennen, immer die gleiche Tonart, das gleiche Orchester, die gleiche Dirigentin. Ein Liederzyklus, und darin auch ein wenig konstruiert.

Auf dem Cover des Buches sieht man einen Vogel auf dem Ast sitzen. Noch ist kein Laut zu hören, der Schnabel verschlossen. Von Nadine Kegele wird man noch hören, auch das vermittelt sich durch diesen Band. Ihre Stimme jedenfalls klingt jetzt schon ziemlich kräftig und selbstbewusst. Wohin es sie führt, wird sich zeigen.

Service

Nadine Kegele, "Annalieder. Erzählungen", Czernin Verlag

Czernin Verlag