Text von Olga Martynowa

Mörikes Schlüsselbein

"Ein Kunstgebild der rechten Art. Wer achtet sein? / Was aber schön ist. Selig scheint es in ihm selbst." Das ist Eduard Mörike und hat mit Olga Martynovas Roman "Mörikes Schlüsselbein" nicht unmittelbar zu tun.

Die Verse aus Mörikes Gedicht wurden in den frühen 1950er Jahren Gegenstand eines berühmten Streits der Interpreten: Der Literaturwissenschaftler Emil Staiger las "selig scheint es in ihm selbst" als - "etwas erweckt den Anschein, selig zu sein"; der Philosoph Martin Heidegger brachte das "sinnliche Scheinen der Idee" ins Spiel und las "Scheinen" als aktiven Vorgang.

Worum es dabei eigentlich ging war folgender Umstand: Klassische Genres wie "das Gedicht", "der Roman", "die Erzählung" waren längst ihrer gleichsam "metaphysischen Begründung" entledigt worden, die diversen Genres standen in Frage. Gefeiert wurden damals die Tode der Literatur! Um nur zwei Beispiele zu nennen: Julio Cortazars "Rayuella" oder Andreas Okopenkos "Lexikonroman" verweigerten sich jeglichem linearen Erzählen. Ob schwergewichtige Überlegungen dieser Art tatsächlich am Anfang von Martynowas Buch standen, sei dahingestellt - als "Roman" ist "Mörikes Schlüsselbein" jedenfalls nur unzulänglich charakterisiert, "Textflächen" wäre passender.

Altbekannte Figuren

Zum Glück treten wieder zwei Figuren auf, die man aus dem früheren Buch "Sogar Papageien überleben uns" kennt: Andreas und Marina, das deutsch-russische Paar - zwanzig Jahre und zwei Kinder später, Moritz und Franziska. Eine Kunststudentin und ein - schon wieder - angehender Dichter. Von diesen, von Dichtern und derem - na ja: interessantem künstlerischen Umfeld wimmelt es auch hier.

Irgendwie hat Moritz mit dem sonderbaren Objekt zu tun, das sich in einer Ausstellung in Tübingen findet: In einer Glas- oder Plastikschachtel leuchtet das opake Schlüsselbein von Eduard Mörike (1804-1875) - "Clavicula moericensis poeta"; Leihgabe des Pragfriedhofes in Stuttgart. Von diesem ominösen Ausstellungsstück wird es später heißen, es sei darin die "dichterisch Kraft eingeschlossen". So sieht es aus:

Eine weitere Rolle für die Erzählung wird der Knochen praktisch nicht spielen.

Geheimnisumwoben

Anders als die Kritikerin Olga Martynowa hält es die Romanautorin nicht mit Klarheit - alles bleibt Andeutung, schillernd, geheimnisumwoben bis zur Geheimnistuerei und bis zum Ostereisersuchen: Welche Stelle passt zu welcher, was passt wie zusammen, in welcher Zeit und wo befinden wir uns überhaupt? Figuren werden rigoros nicht entwickelt, stattdessen kommt ein Name ins Spiel: Da gibt es etwa Professor Bach, der über Russlanddeutsche schreibt; das deutsch-russische Spiegelspiel der 20 Jahre vergangenen Liebe von Andreas und Marian ist wieder eröffnet - allerdings voller Zweifel und Fragen.

Ob es sich dabei um eine gar erotische Anspielung handelt, wird nicht klar. Des Weiteren treten auf: eine gewisse Ljuba Rappoport im Krankenhaus, ein Schriftsteller namens Casper Waidegger, sowie der alte Dichter Fjodor auf Amerikareise: Dies wiederum wird Anlass für allerlei Überlegungen zum Ende der Sowjetunion und zu Erinnerungen, an die Zeit unmittelbar davor. Als dort waren: ein Onkel und eine Tante, die in einer Pulloverfabrik arbeitete, keinen Gehalt erhielt und stattdessen in Naturalien entlohnt wurde. Die Pullover wurden nach dem Vorbild von "Burda"-Modellen umgeändert.

Eine sprechende Katze

Das Mäandern der Erzählung nimmt einmal diese, dann jene Richtung, selten helfen bedeutungsschwere Kapitelüberschriften weiter: Auf eine Schnorrerin in Frankfurt folgt die Geschichte von John Perlmann, der nach Russland reist oder einmal gereist ist - möglicherweise ist er eine Art Spion. Zumindest legt das der Erzählstil der Passage nahe.

Wir aber hängen mit den Protagonisten noch immer der Frage nach: Hat sich Andreas von Sabine getrennt oder Sabine von Andreas? Andreas hat nebenbei auch einen Therapeuten, der ihm rät, etwas zu tun, was er noch in seinem Leben getan hat: einen nächtlichen Spaziergang oder im kalten Neckar schwimmen. So geht es weiter:

Surreales en masse

Der Sturm an surrealen Einfällen treibt das Geschehen zurück zum Amerikabesuch des alten Dichters Fjodor. Amerika dichterisch: "Der Regen, fast kein Regen mehr, sondern ein Sprudelnebel, in das Riesenglas Amerika eingeschenkt." Marina, die auch da ist, wird von einem gewissen Professor Gurjew empfangen, man erfährt etwas über die "persönlichen Dämonen" jedes Menschen, über den Alkoholismus der Russen, über Nophretete, deren bekannte Büste eigentlich eine Fälschung sei, entsprechend der Mode des Jahres 1921.

Miriam, eine Emigrantin aus Wien taucht auf, man spricht über das Einkommen von Dichtern, die ihrem Ansehen nach eigentlich zur Upper-class gehören, was ihnen aber aufgrund ihrer Einkommenslage nicht möglich ist. Dazwischen amerikanisches Lokalkolorit aus dem Film noir: "Das gestreifte Licht glitt durch die Rollladen-Lamellen ins Zimmer, mattiert von der fein zuckenden Staubwebe."

Ein Kapitel lang wird in einer Art Wechselrede und in Perspektivwechsel das Verhältnis von Andreas und Marina neu vermessen: Dazu heißt es etwa - sehr schön: "Sie tanzten sich beim Flamencotanzen die Liebe weg."

Sprachliche Schönheit

Ein Schamane und Leningrader Hippie der 1980er Jahre, der ominöse John, der sich für einen Schneemenschen im Kaukasus oder in Kasachstan interessiert, kehrt wieder. Die dichtesten und leichtesten Stellen des Buches sind Petersburg und der Umgebung der Stadt an der Newa gewidmet: Ein Spaziergang in Puschkin mit dem alten Dichter Fjodor wird zu einer Kleiderperformance im Paradies der Erinnerungen:

Olga Matrynova erschreibt in "Mörikes Schlüsselbein" unendlich viele Stellen und Passagen von außerordentlicher sprachlicher Schönheit - ein Umstand, der allerdings nicht über die Misslichkeit hinwegzutrösten vermag, dass eine Erzählung nie wirklich in Gang kommt. Und irgendwann beginnen die kurzessayistischen Betrachtungen nach dem Motto "Scherz Satire Ironie und tiefere Bedeutung" einfach zu nerven, als da sind: Warum braucht man ein Abitur zum Besuch eines Literaturinstitutes? Was hat Rauchen mit Sehnsucht und mit Liebe zu tun? Ist das Wittgensteinhaus tatsächlich das einzige sehenswerte Gebäude in Wien? Welche Rolle spielt der Selbstmord in der russischen Literatur? Robert Musil sprach in Bezug auf den "Zauberberg" von Thomas Mann von einem "Haifischmagen". "Mörikes Schlüsselbein" ist ein Haifischmagen ohne Thomas Mann.

Am Ende wird schließlich das Rätsel um Mörikes Schlüsselbein gelüftet: Moritz, der angehende Dichter, hat es von einem Punkmädchen, das auf der Wiese auf einer grün-orangen Decke saß, gekauft und in die Ausstellung geschmuggelt. Ein zweites wurde in den Neckar geworfen, ein drittes in Petersburg auf dem Grab des Dichters Fjodor deponiert. Bei Mörike ging alles einfacher: "Ein Kunstgebild der rechten Art. Wer achtet sein? / Was aber schön ist. Selig scheint es in ihm selbst.

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Olga Martynowa, "Mörikes Schlüsselbein", Droschl Verlag

Droschl Verlag