Bibelkommentar zu Johannes 3, 16 – 21

"Die Gespräche nach Mitternacht sind die besten", sagt ein altes studentisches Sprichwort. Nicht gerade verheißungsvoll für jemand, der gerne früh aufsteht.

Aber zugegeben: Nachtgespräche sind tatsächlich etwas Besonderes. Smalltalk hat hier selten einen Platz, sondern es geht um Persönliches, um Wesentliches, um "Eingemachtes".

Das Evangelium wie es heute in katholischen Kirchen zu hören ist, ist ein Teil eines solchen Nachtgesprächs, und zwar zwischen Jesus und dem Theologen und Ratsherren Nikodemus. Nikodemus ist ein Prominenter seiner Zeit; also nicht gerade "Irgendwer". Und er will anscheinend nicht gesehen werden; deshalb kommt er ja in der Nacht.

Die beiden - Jesus und Nikodemus - kommen gleich zu Wesentlichem. Das letzte, was wir von Nikodemus in diesem Gespräch hören, ist seine Frage: "Wie soll das geschehen?" - "Wie soll das geschehen?" Ist das nicht eine bekannte Frage, die so ja auch im Lukasevangelium vorkommt, als Maria den Verkündigungsengel fragt, wie denn das alles geschehen soll mit ihrer Schwangerschaft und der Geburt des Messias. Vielleicht ist es ein Zufall, diese gleiche Frage. Vielleicht aber auch nicht.

Auf jeden Fall lässt der Evangelist Johannes Jesus in ganz komprimierten Worten seine zentrale Absicht, die Absicht Gottes mitteilen: Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen Sohn gesandt und hingegeben hat, und zwar: Nicht um zu richten, sondern zu retten. Dazu ist Jesus also Mensch geworden. Das ist sein wesentlichster Auftrag, das ist seine "Mission".

Nicht um zu richten, sondern zu retten. Nach theologisch-philosophischer Auffassung gibt es eine Art des Richtens, die gnaden-los das Richtige und Rechte sucht. Und es gibt eine Weise des Richtens, die - eines uns noch unbekannten Tages - alles ausrichten und die alles und alle aufrichten wird. In diesem Evangelium distanziert sich Jesus von der ersteren Art des Richtens; zumindest unterscheidet er. Nicht um zu richten, sondern zu retten ist er in diese Welt gekommen.

Manchmal fällt es schwer, auch mir, nicht in Kategorien von "richten" und "richtig" zu denken, sondern mich retten zu lassen und auch dieses Gerettetwerden durch Gott anzunehmen. Zu tief sitzen der Glaube an die eigene Anstrengung und an das Verdienen-müssen. Zu ungeübt bin ich im Mich-beschenken-lassen, jenseits eigener Verdienste.

Und nicht nur das ist bemerkenswert: Dreimal heißt es, dass es Gott um "die Welt" geht, dass Jesus in diese Welt gesandt wurde. Das ist besonders erstaunlich, zumal sich das Johannesevangelium, das rund um das Jahr 100 entstanden ist, sich dieses Evangelium also im Allgemeinen - ganz im Sinn der damals verbreiteten gnostischen Weltanschauung - von "der Welt" distanziert. Hier ist aber klar: Jesus ist in die Welt gekommen, d.h. nicht nur zu den Liebenswerten und Treuen, nicht nur zu den Auserwählten und Auserlesenen, nicht nur zu einer kleinen, feinen Schar. Keine "splendid isolation", sondern grenzenlose, großzügige, allen zugängliche Liebe. "Hingabe" nennt das Evangelium diese Art der Liebe Gottes.

Allerdings: Mit dem Verfasser des Johannesevangeliums glaube ich, Gott stülpt seine Liebe nicht über, sondern Liebe will Freiheit. Und so spricht das Evangelium auch von der Möglichkeit, sich gegen Gott zu stellen. Im Text ist hier von "Gericht" die Rede; ein Gericht, das sich jemand selber beschert, der nicht an Gott glaubt und sich somit nicht von ihm retten lassen will. Gericht - das ist ein belastetes Wort heute, erst recht im religiösen Kontext, weil leicht einmal schmerzliche Glaubensprägungen wie "Verurteilt werden" oder gar so etwas wie "Verdammnis" mitschwingen. Im Griechischen heißt es an dieser Stelle "krisis", was so viel bedeutet wie "scheiden, "entscheiden". Also wörtlich heißt es eigentlich "Krise". Eine Krise eröffnet die Möglichkeit der Entscheidung für oder gegen Gott, für oder gegen das Leben. Gott liebt seine Welt, so meine Überzeugung, und Gott will Leben und Freiheit für die Menschen - auch mit dem Risiko der Ablehnung.

Ich komme noch einmal auf Nikodemus zurück. Von Nikodemus selber ist in diesem Text nicht mehr die Rede. Später taucht er wieder auf, als er Josef von Arimathäa hilft, Jesus ein menschenwürdiges Begräbnis zu ermöglichen und als er großzügig Myrrhe und Aloe dafür spendiert.

Vielleicht hat der jüdische Theologe und Ratsherr Nikodemus mehr von Jesus und seinem Lebensangebot begriffen als mancher Christ.