Christoph Marthalers "Letzte Tage"

Der Schweizer Regisseur und Musiker Christoph Marthaler zählt bereits zu den Stammgästen der Wiener Festwochen. Heuer widmet er sich thematisch dem Beginn des Ersten Weltkriegs und seinen Folgen. Freitag Abend wurde sein Musik-Theater-Projekt "Letzte Tage. Ein Vorabend" im historischen Sitzungssaal des Parlaments uraufgeführt.

Morgenjournal, 18.5.2013

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs geht es turbulent zu im vielsprachigen Abgeordnetenhaus der Donaumonarchie. Hier ist bereits jener aufkeimende Nationalismus und Rassismus spürbar, der sich bald darauf in den beiden Weltkriegen und im Holocaust grausam entladen wird. Genau hier, im historischen Sitzungssaal des Parlaments, inszeniert Christoph Marthaler sein Musik-Theater-Projekt "Letzte Tage. Ein Vorabend".

Der Stücktext basiert auf historischen Sitzungsprotokollen ebenso wie auf aktuellen Pressetexten, Interviews und Politikerreden und er veranschaulicht damit, wie erschreckend ähnlich die Ausprägungen von Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus im damaligen und heutigen Europa anmuten.

Rassistische Gesellschaft

Die lose aneinander gereihten Szenen spielen auf verschiedenen Zeitebenen und sind dennoch alle durch dieselbe Thematik verbunden: Die Abgeordneten des Österreichischen Reichstags widmen sich der "Judenfrage", während die erhitzten Teilnehmer einer Sonnwendfeier die Zuwanderung als "Türkenbelagerung des 21. Jahrhunderts" beklagen. Eine Wiener Dame von Welt beschwört die österreichische Opferrolle im Nationalsozialismus, während ein ungarischer Ministerpräsident erklärt, dass gute Demokratie keine Opposition braucht und eine Grazer Spitzenpolitikerin Rassismus zum salonfähigen Wahlkampfthema erhebt.

"Verlorene" Musik jüdischer Komponisten

Dazwischen wühlt eine Frau in Archivboxen und durchstöbert die Aufzeichnungen von jüdischen Komponisten, die während des Nationalsozialismus' nach Auschwitz oder Theresienstadt deportiert und dort ermordet wurden.

Ihre Musik steht im Zentrum der Inszenierung. Der Komponist und Kontrabassist Uli Fussenegger hat ihre Werke in monatelanger Archivarbeit aufgespürt und für dieses Projekt neu bearbeitet und instrumentiert. Das Ensemble ist mit Streichern, Klavier, Akkordeon und Klarinette bewusst atypisch besetzt, wie er sagt. Die Traumata des Holocaust spiegeln sich in fast allen ausgewählten Kompositionen musikalisch wider, zum Beispiel in einem Streichquartett des polnischen Komponisten Szymon Laks, der - als einer von wenigen - Auschwitz überlebte.

Feinsinnig und satirisch

Sind es zuerst nur einzelne musikalische Fragmente, die zwischen den Szenen erklingen, so wird der Theaterabend immer mehr zum Konzert. Nach und nach geht den Schauspielern die Sprache verloren, bis sie zuletzt nur noch in skurrilen Gesten und hektischen Verrenkungen im Takt der Musik kommunizieren.

Mit satirischem Humor und beunruhigender Direktheit verbindet Christoph Marthaler die Schicksale der jüdischen Komponisten mit aktuellen politischen Entwicklungen. Die feinsinnige Inszenierung enthält aber auch zahlreiche berührende Momente und wurde vom Publikum mit minutenlangem begeistertem Applaus bedacht.

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Wiener Festwochen - Letzte Tage. Ein Vorabend