Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens
Wie viel ist genug?
Seit der Club of Rome im Jahr 1972 seinen berühmten Bericht "Grenzen des Wachstums" herausgab, sind wir gewohnt, wirtschaftliche Produktivität und technischen Fortschritt vor allem aus ökologischen Gründen zu kritisieren.
8. April 2017, 21:58
Der unglaubliche Wohlstand der Industrienationen beruht auf Ausbeutung und Verschmutzung der Natur, wir verschwenden gnadenlos Ressourcen und leben auf Kosten der künftigen Generationen, so lauten die bekannten Argumente. Robert und Edward Skidelsky, Vater und Sohn, der eine Ökonom und Keynes-Spezialist, der andere Philosophieprofessor in Exeter, gehen einen anderen Weg. In ihrem Buch "Wie viel ist genug? Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens" führen sie gegen die Logik des "Immer mehr" vor allem sittliche Einwände ins Feld. Endloses Wachstum ist sinnlos, macht gierig und schadet der Gesellschaft, sagen die Autoren und plädieren für eine moralische Wirtschaftswissenschaft.
Keynes' Gedankenfehler
Im Jahr 1930 schrieb Maynard Keynes einen kleinen, recht unbekannten Text mit dem Titel: "Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder". Hier stellt der berühmte Ökonom die Prognose auf, dass in 100 Jahren - also im Jahr 2030 - die Menschen höchstens 15 Stunden in der Woche arbeiten müssten, um einen sehr guten Wohlstand zu halten. Der technische Fortschritt, so war Keynes' Überlegung, wird uns zunehmend vom Los der Arbeit befreien. Maschinen arbeiten für uns, wir können uns den wichtigen Dingen des Lebens zuwenden.
Der kleine Text von Keynes ist die Achse, um die sich die Argumentation der Autoren Edward und Robert Skidelsky dreht. Warum, so fragen sie, ist Keynes' Prognose nicht eingetreten? Wie wir wissen, sind zwar Produktivität und Einkommen in den Industrieländern enorm gestiegen - das gegenwärtige Bruttoinlandsprodukt liegt sogar über dem, was Keynes erwartete -, aber die Arbeitszeit hat sich bei weitem nicht in demselben Maß reduziert wie vorhergesagt. Seit den 1980er Jahren geht die wöchentliche Arbeitszeit kaum mehr zurück, im Gegenteil: Wir arbeiten mehr, sind länger unterwegs zum Arbeitsplatz. Irgendetwas hat Keynes nicht bedacht, sagen Edward und Robert Skidelsky.
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Keynes' Irrtum lag in der Annahme, die vom Kapitalismus freigesetzte Liebe zum Gewinn könnte durch Fülle befriedigt werden und die Menschen somit frei werden, sich in einem zivilisierten Leben dieser Früchte zu erfreuen. (...) Er verstand nicht, dass der Kapitalismus eine neue Dynamik der Begierden-Erzeugung in Gang setzte, die die traditionellen, durch Brauchtum und gesunden Menschenverstand definierten Beschränkungen hinwegfegen würde. Mit anderen Worten, (...) der Kapitalismus hat beispiellose Fortschritte in der Erzeugung von Reichtum ermöglicht, aber uns zugleich der Fähigkeit beraubt, diesen Reichtum auf zivilisierte Weise zu nutzen.
Unersättliche Gesellschaft
Um Gier geht es in dem Buch der Skidelskys, um institutionalisierte Unersättlichkeit und um eine Gesellschaft, die vergessen hat, zu fragen, was eigentlich wesentlich ist im Leben. Dass wir heute immer noch mehr arbeiten - oder Arbeit falsch verteilen - liegt den Skidelskys zufolge erstens daran, dass die Unternehmer ihre Gewinne nicht weitergeben. Ihre Margen sind in den letzten Jahrzehnten enorm gestiegen, die Löhne aber nicht, weshalb Lohnabhängige weiterhin viel arbeiten müssen, um ihren Lebensstandard zu halten.
Der zweite Grund dafür, dass wir zu viel arbeiten, ist aber die Gier. Geld hat man bekanntlich nie genug. Die Unersättlichkeit - so sehen es die Skidelskys - gehört mit zur natürlichen Grundausstattung des Menschen. Er hat nämlich die Neigung, sich mit seinem Nachbarn zu vergleichen und diesen übertrumpfen zu wollen.
Traditionelle Gesellschaften hatten immer Mittel, diese ungute Neigung zu begrenzen. So gab es etwa Gesetze gegen zu opulente Grabfeiern im antiken Griechenland, Maßlosigkeit und Verschwendungssucht galten als unfein und unsittlich.
Diese moralische Begrenzung ist in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ausgehebelt, denn stetige Steigerung ist ihr Lebenselixier, Befeuerung der Konkurrenz ihr ureigenes Prinzip. Damit wird der Inhalt - das gute Leben - durch die bloße Form ersetzt. Geld, das eigentlich nur ein Mittel ist, mutiert zum reinen Zweck, der leer und süchtig um sich selbst kreist. Die Skidelskys erläutern diese Dynamik mit einem Bild:
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Stellen Sie sich zwei Männer vor, die auf dem Weg in eine Stadt sind. Unterwegs verirren sie sich, doch sie gehen weiter, nun allein von dem Ziel getrieben, vor dem anderen zu bleiben und ja nicht ins Hintertreffen zu geraten. So ungefähr sieht unsere Situation aus. Haben sich alle intrinsischen Ziele aufgelöst, bleiben nur zwei Möglichkeiten: vorne sein oder hinten liegen. Der Positionskampf wird zu unserem Los und Schicksal. Wenn es keinen richtigen Platz gibt, dann ist der beste Platz der an der Spitze.
Pakt mit dem Teufel
Der Wahnsinn des Kapitalismus ist nicht nur schlecht. Die Autoren sprechen von einem "faustischen Handel", einem nützlichen Pakt mit dem Teufel, den wir eingegangen sind und eingehen mussten, um breiten Wohlstand für möglichst viele zu verwirklichen. Doch nun ist es für die Industrieländer zumindest genug. Wenn ein Wohlstand erreicht ist, der uns ein würdiges und angenehmes Leben ermöglicht, sollten wir die Tretmühle der Produktivität bremsen.
Interessant ist, dass die Skidelskys nicht mit Umweltgründen argumentieren, ökologische Katastrophenszenarien sind nicht ihre Sache. Sie schließen sich auch nur bedingt der Glücksforschung an, die ja herausgefunden hat, dass die individuelle Zufriedenheit nicht unbedingt mit dem Reichtum steigt. Es geht den Skidelskis nicht um Glücksmaximierung.
Ihre Argumente sind nicht technizistisch und nicht utilitaristisch, also auf Nützlichkeit hin angelegt, sondern ganz klar sittlich, moralisch und ästhetisch. Die Autoren orientieren sich bewusst an klassischen Konzepten, wie den griechisch-antiken Theorien vom guten Leben, aber auch an der katholischen Soziallehre oder an östlichen Weisheiten.
Sieben Basisgüter
Wenn es Werte gibt, die sich in fast allen Kulturen finden lassen, dann wird wohl etwas Wahres daran sein, meinen sie. So destillieren sie schließlich sieben Basisgüter heraus, die sie für universell halten und für unverzichtbar für das gute Leben.
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Gesundheit, also die vollständige Funktionsfähigkeit des Körpers (...), Sicherheit, also die berechtigte Erwartung eines Menschen, dass sein Leben weiterhin seinen gewohnten Gang gehen wird (...), Respekt, also Anerkennung des anderen Standpunkts, Persönlichkeit, also die Möglichkeit, seinen Lebensplan umzusetzen (...), Harmonie mit der Natur, Freundschaft und Muße.
Auch wenn alle diese Güter gleich wichtig sind, liegt den Autoren doch die Muße besonders am Herzen, sie ist für sie "Tätgkeit ohne Zwang" oder das, was Marx "nicht entfremdete Arbeit" genannt hat.
Radikale Schritte gefordert
Wer so argumentiert, wie die Skidelskys, hat einen sehr hohen Anspruch, nämlich den, zu wissen, was das Gute wirklich ist. Dass nur mit den genannten Basisgütern eine gerechte Gesellschaft aufzubauen sei, davon sind die Autoren fest überzeugt. Sie sehen daher die vornehmliche Aufgabe des Staates darin, die Basisgüter für alle Bürger zur Verfügung zu stellen.
Das beinhaltet einige recht radikale Schritte. So fordern die Autoren, das Einkommen gerechter zu verteilen und Konsumzwang zu reduzieren. Das "Gute Leben" geht einher mit Steuererhöhungen, gesetzlich vorgeschriebener Reduzierung der Arbeitszeit, einem Grundeinkommen für alle und einer Begrenzung der Werbung. Die Skidelskys verabschieden sich auch vom Prinzip der Wertneutralität des Staates:
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Wofür wir eintreten, ließe sich vielleicht am Treffendsten als Paternalismus ohne Zwang beschreiben. Wir glauben, dass der Staat seine Macht durchaus dafür einsetzen darf, die Basisgüter zu fördern, allerdings nur so weit, als er damit nicht gegen das Basisgut der Persönlichkeit verstößt.
Interessante Mischung
Das Buch von Vater und Sohn Skidelsky ist gut und sehr eingängig geschrieben, die Verbindung der Kompetenzen aus Ökonomie und Philosophie ergibt eine interessante Mischung. Was das Buch zugleich überzeugend und beklemmend macht, ist der moralische Impuls der Autoren. Wir haben die Sprache der Ethik verloren, können uns nicht mehr in ihr ausdrücken, behaupten die Skidelskys, und irgendwie ist es wohltuend, wenn da zwei kommen und diese Sprache wieder beleben. Sie haben ja Recht, wenn sie sagen, "das Geld" sei "die Schlange im Garten Gottes".
Zugleich aber riecht der "Paternalismus ohne Zwang" auch ein wenig nach Kerkerluft. Das Buch der Skidelskys ist in Teilen recht altväterlich und konservativ, zumindest für Menschen moderner Gesellschaften, die gelernt haben, individuelle Freiheit für den höchsten Wert zu halten - und sei es die Freiheit, sich an die Habgier zu versklaven.
Service
Robert und Edward Skidelsky, "Wie viel ist genug? Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens", Verlag Antje Kunstmann
Verlag Antje Kunstmann
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