Dublinesk

Enrique Vila-Matas, Jahrgang 1948, ist einer der weniger Spezialisten für literarische Außenseiter. Auch sein neuer Roman Dublinesk handelt von einem solchen.

Samuel Riba ist einer der Letzten seiner Art: ein Literatur-besessener Verleger im Ruhestand, dessen Leben zur Gänze den Büchern geweiht war und der sich vollständig in die literarische Welt eingesponnen hat.

Außerdem ist er trockener Alkoholiker und Ehemann einer Frau, die gerade zur Buddhistin wird. Im verregneten Barcelona träumt er von Dublin und einem Neuanfang, den er ausgerechnet mittels einer ironischen Trauerfeier am Bloomsday, also am 16. Juni, an jenem Tag, an dem der "Ulysses" des von ihm hochverehrten James Joyce spielt, in Gang setzen will.

Zur letzten Ruhe gebettet soll aber nicht der arme Säufer Paddy Dignam werden, sondern gleich die ganze Gutenberg-Ära. Riba, selbst ein exzessiver Nutzer des Internets, trauert dem gedruckten Wort nach, der großen Literatur, dem talentierten Leser, dem begeisterten Verleger, also – unter anderem - sich selbst.

Riba liest die Welt tatsächlich buchstäblich. Denn er ist einerseits so von Literatur durchdrungen, dass seine Wahrnehmung selbstständig literarische Bezüge und Zitate herbeizuschaffen scheint. Andererseits erzählt sich Riba unaufhörlich sein eigenes Leben, verwandelt das Erlebte sofort in Literatur. Dabei findet er nur noch in der Fremde Raum für Erfindung und Begeisterung, nur dort gibt es noch – im engsten Wortsinn - Unbeschriebenes.

Abgestoßen vom allzu Vertrauten und Selbstbezüglichen in der lateinischen Welt, wagt er den – wie er es nennt – "englischen Sprung" und begibt sich in Begleitung von drei befreundeten Autoren nach Dublin auf die Suche nach authentischem Enthusiasmus. Eine Odyssee durch eine Stadt, durch die Weltliteratur und durch die Wirrnisse einer verschwimmenden Identität beginnt.

Riba liest und grübelt über Gelesenes, aber auch über sein Verlegerleben, dem die Krönung durch die Entdeckung eines Genies versagt geblieben ist, und über das Altern. Er treibt sich mit seinen Autoren-Freunden in Dublin herum, absolviert tatsächlich ein tragisch-komisches Gutenberg-Requiem, und greift schließlich wieder zur Flasche. Während seiner Literarisierung des Erlebten fühlt er immer wieder die Anwesenheit eines ihn beobachtenden Geistes. Riba erkennt in ihm seinen Autor.

Der Autor als Gespenst, das seine Figur verfolgt - erzählt aus der Perspektive der Figur: Das ist nicht nur ein ironisches Spiel mit dem Dekonstruktivismus und dem darin proklamierten "Tod des Autors", sondern vor allem ein lückenloser Vollzug des Literarischen. Wenn umgekehrt ein Autor von seiner Figur verfolgt würde, könnte man das als psychisches Phänomen und somit als Teil der Realität betrachten. Es wäre unliterarisch.

Hier fühlt sich die Figur von ihrem Schöpfer bedrängt. Die Figur erzählt. Den Autor, der von seinem Geschöpf überdies als blutiger Anfänger oder Novice verspottet wird, gibt es nur noch als bemitleidenswertes Gespenst, das Schwierigkeiten hat seinen Blick scharf zu stellen.

In Enrique Vila-Matas Roman sind unzählige Schriftsteller mit ihren Werken gegenwärtig. Vila-Matas erschafft ein Netz aus literarischen Bezügen, in dem auch Autor und Figur eng miteinander versponnen werden.

Ein Beispiel: Die Figur Riba sieht einen Beckett-Doppelgänger am Friedhof im Nebel auftauchen und wieder verschwinden und hält ihn für ihren Schöpfer, sie weiß um die Quellen ihrer Wahrnehmung bzw. Einbildung: in der Friedhofsszene des "Ulysses" erscheint Leopold Bloom ein rätselhafter Trenchcoat-Träger, der als Selbstporträt des James Joyce gedeutet wurde – übrigens von Vladimir Nabokov.

Der Nebel, in dem er verschwindet, bezieht sich auf einen Roman von Miguel de Unamuno, in dem ein Mann am Rande des Selbstmords beschließt, statt sich selbst lieber Unamuno zu töten, nachdem er erfahren hat, dass er nur eine Figur in dessen Roman ist.

Vila-Matas Text ist allerdings weder eitles name dropping noch ein literaturwissenschaftlicher Exkurs, er ist ein Roman, dessen Thema die Literatur selbst ist, der in manchen Passagen – und dies sind nicht die schlechtesten – zum Essay wird, dann wieder zu einer amüsanten Charakterstudie und dabei immer ein Spiel mit der Phantasie des lustvoll herausgeforderten Lesers bleibt.

Mit der Figur des Samuel Riba setzt Enrique Vila-Matas dem literarischen Menschen ein Denkmal, einer untergehenden Spezies, deren Auferstehung aber nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Denn wer hier das Ende der Literatur feiernd betrauert, ist selbst eine literarische Figur – und die will gelesen werden.