Biografie von Benoît Peeters

Jacques Derrida

Ein Comics-Freak kommt auf die Idee, eine Biografie über einen großen Philosophen zu verfassen, einfach deswegen, weil es von ihm noch keine gibt. Mit diesen Worten könnte ein Witz für Intellektuelle beginnen. Nur: Im Falle der Biographie zum französischen Meisterdenker Jacques Derrida ist es gar kein Witz.

Benoît Peeters, Autor und Theoretiker von Comics, zugleich Schriftsteller, Essayist und Absolvent von französischen Eliteschulen, hat dieses Projekt realisiert. Und es ist durchaus ein Glücksfall, dass Peeters sowohl den Blick von außen auf Jacques Derrida richtet als auch das intellektuelle Milieu Frankreichs kennt. Der Autor ist zudem kein eingefleischter "Derridaner".

Um falsche Vorstellungen gleich auszuräumen: Peeters über 900 Seiten starke Biografie behandelt tatsächlich das Leben des Philosophen, mit seinen beruflichen und privaten Höhen und Tiefen, aber sie will keine Einführung in dessen Denk- und Lehrgebäude geben. Natürlich kommen die Texte und Bücher Derridas zu Wort, doch es werden eher Bedingungen ihrer Entstehung beleuchtet und dann ihre Aufnahme beim intellektuellen Publikum. Peeters ist so geschickt, dass er zentrale Begriffe in Derridas Denken wie "différance" und "deconstruction" nicht erklärt, sondern Briefstellen anführt, in denen Derrida selbst diese Begrifflichkeiten erläutert. Das kann dann selbst für Kenner der Derridaschen Philosophie erhellend sein.

Forderung nach Memoiren

Nun mag man vielleicht eines einwenden: Derrida, der Philosoph der Spur und der Auslöschung von Spuren, wollte er nicht, dass sein Werk im Vordergrund steht und nicht sein Leben? Auch da verblüfft Peeters seine Leser mit Fakten: Derrida - ein Philosoph, der dem Prinzip der "memoria" des Augustinus stets nahe stand - hat Memoiren-Literatur zu Philosophen selbst eingefordert. Zu abstrakt stünden sie da, die Heroen der Geistesgeschichte, etwa Hegel oder Heidegger. Genüsslich zitiert Peeters einen etwas geistig erregten Derrida, der vor laufender Kamera sagt:

Nun muss man eines sagen: Derrida hat sein Privatleben eher geheim gehalten. Über seine Kindheit und Jugend als sephardischer Jude in Algier schwieg er lang, obwohl Unterdrückung, Anderssein und Heimatlosigkeit in seinem Werk keine geringe Rolle spielen. Und die Liebe zu den Frauen blieb sehr lange ein großes Geheimnis des Philosophen. Derrida heiratete jung, hatte zwei Söhne, aber auch zahlreiche, oft intensive Liebschaften - und ein uneheliches Kind. Man erfährt in Peeters' Biografie erstmals einiges Genaues darüber, aber der Autor ist klug genug, dass er dieses Thema keineswegs sensationslüstern ausschlachtet.

Beusch der Eliteschule

Eine Biografie über Jacques Derrida ist auch eine über das Geistesleben Frankreichs der 1950er Jahre bis knapp nach der Jahrtausendwende. Der junge Derrida hatte als ausgezeichneter Schüler die Gelegenheit, von Algerien nach Paris zu wechseln, um dort an den Eliteschulen zu reüssieren. So querdenkerisch Derrida von Anfang an veranlagt gewesen ist, so klug und diplomatisch war er in Auftreten und Verhalten gegenüber dem Eliteausbildungssystem. Und er schloss bald Freundschaften mit Lehrern und Mitschülern: Louis Althusser, Pierre Bourdieu, Paul Ricoeuer, Michel Foucault, Philippe Sollers, Maurice Blanchot, Emmanuel Levinas - um nur einige zu nennen. Das macht klar, dass die Biografie Derridas zugleich eine ist, die Sympathie, Antipathie, Zusammenarbeit, Gedankenaustausch, Konkurrenz unter diesen Meisterdenkern beschreibt.

Jacques Derrida nahm aber in dieser Situation eine eigenwillige Position ein. Ihm wurde lang - und das ist und bleibt ein großer Makel der französischen Universitätspolitik! - ein Professorenposten verwehrt. Hingegen konnte er sich an den Eliteuniversitäten der USA, etwa in Yale, etablieren und war für lange Zeit der einzige unter den französischen Meisterdenkern, der seine Positionen und die des Poststrukturalismus direkt an die amerikanischen Studenten weitergeben konnte. Der Treppenwitz der Philosophiegeschichte ist dabei: Da Derrida sehr stark von der deutschen Philosophie beeinflusst ist, vornehmlich von Heidegger und Husserl, wurden durch seine Lehrtätigkeit diese Philosophen auch in den USA stärker rezipiert.

Freundschaft mit Paul de Man

Eine besondere enge Freundschaft verband Derrida mit Paul de Man, der als Komparatist eine Professur in Yale innehatte. De Man war es auch, der Derrida eng an diese amerikanische Eliteuniversität zu binden verstand. 1987, vier Jahre nach dem Tod de Mans, wurden Artikel aufgefunden, in denen der damals junge Belgier deutlich antisemitische Parolen aufs Papier brachte - diese Texte stammen aus den 1940er Jahren. Zudem eröffnete Victor Fariás' Heidegger-Biografie in Frankreich erstmals eine breite Auseinandersetzung bezüglich Heideggers Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus.

Und den "neuen Philosophen" in Frankreich wie André Glucksmann und Bernard-Henri Lévy offenbarte die Debatte um de Man und Derrida die politisch-historische Ignoranz der französischen Meisterdenker. Derrida, der ja selbst einer sephardisch-jüdischen Familie entstammt, ging zum Gegenangriff über. Dabei ging es nicht bloß um seine Freundschaft mit Paul de Man, sondern letztlich um die Fundamente des eigenen philosophischen Gedankengebäudes.

Gelungen ist ihnen das freilich nicht. Auch wenn Benoît Peeters zugestehen muss, dass Derrida bei der Verteidigung seiner Position viel zu emotional reagierte. Möglicherweise deswegen, weil man in der de-Man-Affäre seine eigene philosophische und moralische Integrität in Frage stellte.

Service

Benoît Peeters, "Jacques Derrida. Eine Biographie", aus dem Französischen übersetzt von Horst Brühmann, Suhrkamp

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