Julien Gracq über den Zweiten Weltkrieg
Aufzeichnungen aus dem Krieg
Krieg ist im 20. Jahrhunde kein Gegenstand er deutschsprachigen Literatur - zumindest was den Zweiten Weltkrieg betrifft; die so genannte "Trümmerliteratur" der 1950er Jahre hielt sich an die Maxime, "Antikriegsliteratur" zu sein.
8. April 2017, 21:58
Von wenigen Ausnahmen abgesehen blieben Darstellungen von Kampf und Schlacht in die Schmuddelecke der "Landserhefte" verbannt. Versuche, die militaristische Edelpornografie eines Ernst Jünger zu rehabilitieren, der seine Sprache über den "Kampf als inneres Erlebnis" im Ersten Weltkrieg gefunden hatte, gerieten periodisch zu lautstarken Diskussionen, als handle es sich um Wiederbetätigung; eine Art Konsens über die literarische Darstellung des Zweiten Weltkrieges wurde erst mit Walter Kempowskis dokumentarischem "Echolot" gefunden. Poetisierung, gar "Ästhetisierung" des Kriegs hingegen bleibt weiterhin im Verdacht. Dass es im Fall der umfangreichen Literaturen der einstigen alliierten Nazigegner anders verhielt, weckte naturgemäß immer wieder großes Interesse.
Der französische Neoklassiker Julien Gracq, manchmal als "letzter Surrealist" tituliert, wählt in seinen 1941 bis 1942 unmittelbar nach der deutschen Gefangenschaft verfassten "Aufzeichnungen aus dem Krieg" ein mittleres Verfahren: Realistisches, detailgenaues Erzählen, das höchst dokumentarische Qualität besitz, gepaart mit immer wieder ansetzenden Versuchen, die Landschaften des Kriegs in poetischen Bildern zu überhöhen. "Überhöhnen" bedeute hier das Gesehene und Erlebte überhaupt erst einmal zu erfassen, in Worte zu bringen.
Schlacht um Dünkirchen
Über die militärgeschichtliche Bedeutung der beschriebenen Ereignisse zwischen 10. Mai und 2. Juni 1940 in Nordfrankreich und Flandern, wohin Leutnant Gracq als Kommandant eines Zuges des 137. Infanterieregimentes abkommandiert wird, erfährt man dabei wenig. Zur Erinnerung: Es geht um jene Episode des sogenannten "Blitzkrieges" von Hitlers Wehrmacht, die binnen eines Monats über Luxemburg, die Niederlande und Belgien an den Atlantik vorstieß und den Rückzug englischer Truppen vom Kontinent abzuschneiden drohte; das hätte für den weiteren Kriegsverlauf auf Seiten der Alliierten verheerende Folgen gehabt. Kurz: Es geht um die Schlacht um den nordfranzösische Hafen Dünkirchen. Die französische Armee ergeht sich in Planlosigkeit, das Oberkommando ist von Dünkelhaftigkeit erfüllt, die Moral der Truppe sinkt immer mehr.
Davon ist bei Gracq ansatzweise auch zu lesen, wenn es gleich eingangs in einer Unterhaltung unter Offizieren heißt, die Deutschen hätten mit ihrem Einmarsch in Belgien einen entscheidenden Fehler begangen. Aber Leutnant G., der sich - wie Julien Gracq - sogleich als grenzenloser Jules-Vernes-Fan outet, fantasiert vorerst folgendermaßen über den bevorstehenden:
Zitat
"Mein großes Trachten momentan: nahe beim Meer zu sein. Die Maschinengewehre im Gras der Dünen, linker Hand das Meer, auf dem man die Kanonenboote manövrieren sehen würde. Im Landesinneren würde ich mich verloren fühlen. Dort, am Ufer des Meeres, würde das Abenteuer nicht ganz reizlos sein. Das könnte ganz gut gehen. Was den Kampf angeht, die Granaten, so lasen wird das vorläufig im Nebel."
Ausnahmezustand
Der "Aufbruch ins große Abenteuer" - nicht als Kriegsverherrlichung, sondern eine Form, den Ausnahmezustand zu beschreiben - wird sogleich selbstironisch durch eine herausgefallene Zahnplombe gestört; nebenan schlagen deutsche Aufklärungsflugzeuge Kapriolen, ein "Dorftrottel", der aus Holland geflohen ist, erzählt von den Deutschen; fernen Detonationen werden nachts von "prächtigen Sternen" überwölbt. Da ist von "rimbaudschen Bahnhöfen" die Rede, und die Sinnlosigkeit eines zehntägigen Zickzackmarsches der Truppe durch das besetzte Belgien und die Niederlande, ohne einen einzigen Schuss abgegeben zu haben, wird rasch deutlich.
Betrunkene Bretonen, Plünderungsszene, ausschweifende belgische Offiziere mit ihren Frauen auf einem Bahnhof - Leutnant Gracq bemüht immer öfter Beispiele aus der Literatur, um überhaupt noch irgendetwas zu verstehen. Aus einiger Entfernung beobachtet er, wie eine Wirtin beim Ausschenken von Pernod von einem Granatsplitter getötet wird. Todernst in eigener Sache wird es, als die Truppe sich in direktem Beschuss befindet, der Tagebuchschreiber sich zu Boden wirft und dabei seinen Helm verliert - die Kugeln pfeifen wenige Zentimeter an ihm vorbei:
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Hinter mir spüre ich die endlose Länge meiner ungeschützten Beine. Ein Augenblick reiner Angst und absoluter Passivität. Von Sekunde zu tödlicher Sekunde erwarte ich die nächste Salve in den Schädel - drei, vier Minuten. Ich hatte alle Muße, es mir auszumalen. Absolute Ohnmacht - nicht das Geringste kann getan werden - nichts als eine gewisse Nuance in dieser Reglosigkeit, die mir Einblick in das Wesen der Steine und der Mineralien gewährt.
Es sind solche Passagen, die Gracqs Kriegstagebuch so eindringlich und imposant machen: auch wenn der Leutnant G. vor Beklemmung und Orientierungslosigkeit nicht mehr weiter weiß, in immer neuen Anläufen vergegenwärtigt er sich die Situation und erfindet für sich neue Bilder, die zumindest Momente lang Orientierung erlauben. Bisweilen geraten diese Bilder auch als zu dick aufgetragen, wenn die Überlegenheit der deutschen Militärmaschinerie und die zunehmende französische Ohnmacht etwa so erklärt werden:
Zitat
Vielleicht könnte man sogar so weit gehen und sagen, dass zwei Truppen mit so etwas wie der ambivalenten Neugier der Liebe aufeinander zu gehen. Die Deutschen sind auf uns zugegangen und waren, ich kann es sagen, in die glänzende und beinahe begeisternde Wolke ihrer Siege gehüllt.
Scharmützel
Der kurze Ausflug in den Kitsch wird rasch abgelöst durch minimalistische Wahrnehmungsfetzen, fantastische Versuche, die Landschaft der Schlacht zu "deuten", es folgen ein Stimmengewirr über die "Gefahren" der Verbrüderung oder eine dramatische Szene, in der zwei deutsche Soldaten mit ihrem Motorrad direkt in die französische Stellung hinein rasen: Tagebuchschreiber Gracq bekennt sein Versagen, seine Pistole nicht rechtzeitig aus dem Halfter zu bekommen; ein Begleiter verletzt einen der Deutschen und verwundet den anderen schwer. Einen Moment lang ist der Krieg vorerst zu Ende und Gracq empfindet "ein jähes Gefühl der Sympathie für diesen Unbekannten". Ein wenig später erfährt man, dass ein französischer Zivilist den tödlich verwundeten Deutschen mehrmals ins Gesicht tritt.
In den letzten Maitagen des Jahres 1940 kommt es zu einem zweitägigen Kampf an einem Kanal in der Nähe von Dünkirchen: Die sich zurückziehenden englischen Truppen verschwinden, das tun auch die letzten Plünderer - "wie ein Schwarm von Spatzen". Stukas bombardieren, ein Panzerangriff, eine kurzes Feuergefecht - dann bleiben nur noch: "Teilnahmslosigkeit an den Vorgängen, Ironie, das Gefühl, am Leben zu sein". Die Boches - die Deutschen - sind da. Das verblüfft den Leutnant G., der sich lange und pflichtversessen geweigert hatte, seine Stellung einfach aufzugeben, am meisten. Alle löst sich auf - bis zur Frage: "Wo sind wir, was geht vor?"
Momentaufnahmen aus dem Krieg
Anders als Gracqs Tagebuch, das den Weg bis zu Kapitulation und eigener Gefangennahme nachzeichnet, endet die dem Band beigefügte Erzählung, die dieselben Vorgänge und Ereignisse in auf weiter Strecke identischem Wortlaut zum Gegenstand hat, mit der Gefangennahme deutscher Soldaten. Der reale Schluss: Eine kleine Gruppe von Franzosen hält sich im Keller eines Bauernhauses versteckt, das Dorf ist schon von Deutschen besetzt:
Zitat
Dann ein schwerer Schritt, der geradewegs auf uns zukommt. Die Kellertür geht auf. Ich rufe. "Nicht schießen." "Wir ergeben uns."
Julien Gracqs "Aufzeichnungen aus dem Krieg" bestechen mit ihren "sorgfältigen Momentaufnahmen" aus einem Krieg, über dessen Ausgang wie "moralische Qualität" keinerlei Zweifel bestehen. Damit einhergehende Tabus darf man in diesem Fall getrost beiseite lassen. Allerdings hätte das von Dieter Hornig exzellent übersetze Büchlein ein solides zeitgeschichtliches Nachwort verdient. Das Vergnügen, lesend nachzuvollziehen, wie aus einem "dokumentarischen Tagebuch" erzählerische Literatur entsteht, wäre vermutlich größer.
Service
Julien Gracq, "Aufzeichnungen auf dem Krieg", aus dem Französischen von Dieter Hornig, Literaturverlag Droschl