Niall Ferguson ist pessimistisch

Der Niedergang des Westens

Wie konnte es geschehen, dass der Westen seinen Einfluss in der Welt mehr als 500 Jahre lang erfolgreich verteidigen konnte? Dieser Frage ging Niall Ferguson vor zwei Jahren in seinem viel beachteten Buch "Der Westen und der Rest der Welt" nach.

"Killer-Apps", Killerapplikationen, nannte der Wirtschaftshistoriker jene sechs Errungenschaften, die Europa und die USA die weltweite Vormachtstellung garantierten, nämlich Wettbewerb, Wissenschaft, Demokratie, Medizin, Konsum und Arbeitsmoral.

In einer für die BBC gestalteten Vortrags-Reihe, die jetzt unter dem Titel "Der Niedergang des Westens" in Buchform erschien, legt Ferguson nach: Während der Rest der Welt jene Errungenschaften des Abendlandes erfolgreich kopiert, verliert der Westen an Bedeutung. Mehr noch: Er befindet sich im freien Fall. Nachlassendes Wachstum, explodierende Staatsschulden, die alternde Bevölkerung und auseinanderbrechende Sozialgefüge seien die sichtbarsten Zeichen für den Niedergang.

Niall Ferguson nennt dafür vier Gründe: "Erstens hat sich die öffentliche Finanzwirtschaft grundlegend gegen die Interessen zukünftiger Generationen gewendet. Wir haben uns daran gewöhnt, auf Kosten zukünftiger Generationen zu leben. Wir sehen das an den riesigen Schuldenbergen dies- und jenseits des Atlantiks. Zweitens: Die krankhafte Anhäufung von extrem komplexen Gesetzen und Vorschriften. Wir knebeln uns selbst mit 800-, 900-Seiten langen Statuten. Drittens – ein eher amerikanisches Problem – ist die Krise des Rechtsstaats. Er entwickelt sich mehr und mehr zur Herrschaft der Rechtsanwälte. Jeder, der in den USA Geschäfte macht, weiß das. Und schließlich sehe ich auch einen Verfall der Zivilgesellschaft. Statt auf Freiwilligenorganisationen verlassen wir uns immer öfter auf den Staat, um Probleme zu lösen."

Die Säulen haben Sprünge

Standen Westeuropa und die USA 1989, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, noch als moralische Sieger da, so bröckeln heute jene vier Säulen, die einst für deren Aufstieg sorgten: nämlich Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft, Zivilgesellschaft, ja sogar die westliche Demokratie sieht der Autor heute in einer tiefen Krise. Aber Niall Ferguson hat auch ein Rezept parat, um den Niedergang zu stoppen:

Es sei notwendig, einen Mittelweg zu finden zwischen den Vorteilen eines freien Marktes und den nötigen gesetzlichen Rahmenbedingungen, sagt Niall Ferguson ganz im Stil des Neokonservativismus. Überregulierungen zwängten sowohl die Wirtschaft als auch das Rechtssystem in ein ungesundes Korsett, der paternalistische Wohlfahrtsstaat täte das Seine, um das Engagement der Bürger auszuhebeln und den Schuldenberg wachsen zu lassen:

"Das wird zum größten Problem unserer Zeit: Warum sollten die Jungen hohe Steuern zahlen und Arbeitslosigkeit riskieren zum Wohle eines Wohlfahrtsstaates, deren Nutznießer die Babyboomer-Generation ist?"

Zwischen USA und EU

Die Symptome des Verfalls wären vor allem im krisengeschüttelten Europa nicht mehr zu übersehen, meint Ferguson. Auch wenn sich Staaten wie Österreich oder Deutschland noch in Sicherheit wiegen könnten:

Mitteleuropa, jedenfalls dem Deutsch sprechenden Teil Europas, geht es gut. Die Gesetzgebung ist in guter Verfassung, die Zivilgesellschaft ist lebendig, und die Probleme in Südeuropa sind fast unsichtbar. Auch wenn Österreicher nach Spanien oder Italien auf Urlaub fahren, sehen sie die Probleme in diesen Gesellschaften nicht wirklich. Sie sehen weder Jugendarbeitslosigkeit noch die Korruption, die in Italien und Griechenland ein großes Problem ist. Österreich hat sich in einer gewissen Selbstgefälligkeit eingerichtet, dass sowieso alles bestens läuft." Völlig zu Unrecht, betont der Wirtschaftshistoriker und Harvard-Professor.

Ferguson, selbst Euro-Skeptiker der ersten Stunde, glaubt nicht daran, dass sich Europas Probleme ohne schmerzhafte Reformen lösen lassen. Die Euro-Staaten müssten sich nun entscheiden, warnt Ferguson: entweder sie entwickelten sich hin zu einem Vereinigten Europa im Stil der USA inklusive Steuerunion und Transferleistungen, oder sie werfen alles über Bord und gehen zurück zu den alten Währungen.

"Jetzt haben wir so ein Zwischending", meint Ferguson. "Wir sind ein wenig Bundesstaat, ein wenig Staatenbund, wir sind eine Währungsunion, aber nicht alle sind dabei... Eine sehr chaotische Situation, die nicht tragfähig ist. Wir müssen uns bald entscheiden, ob wir ein vereinigtes Europa haben wollen oder das alte System mit vielen Währungen, Abwertungen, der D-Mark und - wer weiß - vielleicht sogar dem Schilling."

Auf den Punkt gebracht

Das Buch des Wirtschaftshistorikers Niall Ferguson liest sich in Teilen wie ein politisches Pamphlet: etwa dann, wenn der Autor die "Regulierungswut" in der westlichen Welt an den Pranger stellt. Der Text sei ein "Loblied auf die heilsame Wirkung des ungehemmten Kapitalismus" bemängelte ein Kritiker. Dass gerade auch die Deregulierungen auf dem Finanzsektor für Unruhe gesorgt haben könnten, zieht Ferguson gar nicht in Erwägung. Fans des britischen Intellektuellen werden sich von dieser Kritik nicht abhalten lassen - denn wie immer bringt Ferguson seine Thesen gekonnt und unterhaltsam auf den Punkt.

Service

Niall Ferguson, "Der Niedergang des Westens. Wie Institutionen verfallen und Ökonomien sterben", Propyläen Verlag