Krimi von Paolo Roversi
Milano Criminale
Der italienische Kriminalroman, dem es selten an Sujets, Lokalkolorit und verwegen diffizilen Plots gemangelt hat, scheint inzwischen in eine veritable Krise geraten zu sein. Zumindest in seiner ins Deutsche verbreiteten Form.
8. April 2017, 21:58
Ablesbar ist der Befund an dem, was in der jüngsten Zeit so alles hierzulande erschienen ist: Neben bald kaum noch überblickbaren sogenannten "Mafia-Augenzeugen", "Ein- und Aussteiger-Berichten" - allesamt erschienen nach Roberto Savianos großem und für ihn persönlich dramatischem Erfolg des Tatsachenromans "Gomorrha" über die Camorra - sind - abgesehen von Donna Leons bis zum Abwinken verfilmter venezianisch-kriminalistischer Folklore - zuletzt veröffentlicht worden: ein wahrlich schwacher Sammelband von Kriminalerzählungen Camilleris, de Cataldos und Lucarellis, der inzwischen amtierenden "Hochmeister" des Genres im Nachbarland. "Richter" nennt sich das Buch. Guter Tipp: Lassen Sie die Finger weg. Abgesehen von Camilleris Schelmenstück werden Sie sich heftig langweilen. Leider.
Italienischer Krimi in der Krise
De Cataldo, römischer Richter und Schriftsteller, einer der Autoren im gerade erwähnten Sammelband, hat vor Jahren einen voluminösen und ausgiebig recherchierten Krimi über die römische Mafia der 1970er bis 1990er Jahre, deren Verbindungen zu Geheimlogen, Neofaschisten und Vatikan geschrieben. Titel: "Romanzo Criminale".
Jetzt hat de Cataldo - oder sein Verlag - einen - wie soll man es nennen? - Vor- oder Nachzügler des "Romanzo" veröffentlicht. Titel: "Der König von Rom". Flott lesbar, gut 160 Seiten, neuer historischer und literarischer Erkenntniswert: gegen Null.
In der Tat stellt sich also die Frage: Liegt die Krise des italienischen Kriminalromans an den Autorinnen und Autoren, an den italienischen Verlegern oder - übertragen in den deutschen Sprachraum - an den Verlagen hierzulande, an deren Verkaufs- und Vermarktungsstrategien?
Die Antwort mögen berufenere Zeitgenossen geben - literarische Feldforscher oder örtliche Talentescouts zum Beispiel -, ich erhebe jedenfalls den unbewiesenen Generalverdacht, dass der Literaturbetrieb und seine kommerziellen Kalküle dafür verantwortlich sind, dass hierzulande in letzter Zeit vor allem jene italienische Krimiware erscheint, die sich auf Mafia-Folklore und sinistre Verschwörungstheorien beschränkt.
"Kain und Abel" in Mailand
Umso erfreulicher sind die seltenen Ausnahmen. Dazu zählt das eben erschienene Buch "Milano Criminale" von Paolo Roversi. Der deutsche Verlag nennt es einen Roman, aber selbstverständlich ist das ein Krimi. Ein Kriminalroman im besten Sinne des Wortes, der die Aktivitäten der Mailänder Halb- und Unterwelt in einen historischen Kontext zur sozialen und politischen Entwicklung Italiens in den 1960er Jahren setzt.
"Milano Criminale" ist keine Chronik, das Buch ist das, was man "faction" nennen könnte, eine ausgeklügelte und trotz einiger Überlängen hochspannende Mischung aus Fakten und Fiktion. Die Fakten entstammen der Kriminal- und Politikgeschichte - von frühen Geldtransporterüberfällen und späteren Raubzügen in Mailand bis zum vom Geheimdienst gesteuerten Bombenattentat der Neofaschisten auf der Piazza Fontana und den Straßenschlachten der Polizei mit der außerparlamentarischen Linken der späten 1960er.
Die Fiktion wiederum ist ein bekanntes Konstrukt - eine "Kain und Abel"-Geschichte.
Sitten- und Geschichtsbild
Zwei Jungen wachsen in einem Mailänder Stadtviertel auf, werden Ende der 1950er Jahre Zeugen eines Überfalls auf einen Geldtransporter, ein perfekter Coup mit Millionenbeute und keinen Todesopfern. Der eine Junge wird zum Polizisten, der andere lebt seine Zukunft in der "malavita", der Halb- und Unterwelt. Selbstverständlich kreuzen sich die Wege im Laufe der Jahre, und auch der Showdown am Ende des Buchs ist nur ein vorläufiger.
Fazit: Trotz diverser Überlängen, die einer gewissen Sentimentalität des Helden oder seines Autors geschuldet sein mögen, ist "Milano Criminale" ein durchaus spannendes Sitten- und Geschichtsbild der norditalienischen Metropole. Eine Fortsetzung dieser Kriminalchronik von Paolo Roversi, übrigens ein Mailänder Journalist des Jahrgangs 1975, scheint vorgesehen zu sein, dann aber - bitte und wenn machbar - mit weniger Abschweifungen.
Service
Paolo Roversi, "Milano Criminale", aus dem Italienischen übersetzt von Esther Hansen, Ullstein Verlag