Graphic Novel von Derf Backderf

Mein Freund Dahmer

"Ich war er ein ganz normales Kind". So schätzte sich der Serienmörder Jeff Dahmer selbst ein. Dieses Interviewzitat ist der Graphic Novel "Mein Freund Dahmer" vorangestellt. Der Bruch mit der Normalität kam dann wohl im Teenageralter - von dieser Zeit erzählt der Comic.

Der Bruch mit der Normalität ist das, was man die ganze Lektüre lang und darüber hinaus erklären und verstehen will. Wann wurde aus dem ganz normalen Kind Jeff Dahmer der abartige kranke Serienmörder, der zwischen 1978 und 1991 mindestens 17 Männer grausam umgebracht, missbraucht und teilweise sogar gegessen hat?

Den ersten Mord verübte er zwei Wochen nach seinem Highschool-Abschluss. Bereits in der Highschool war Dahmer alles andere als normal. Aber der Reihe nach:

Die Katze im Einmachglas

Man stelle sich einen Nerd aus den 1970ern vor – hängende Schultern, schlaksig, groß, mit einer ebensolchen markanten Metallbrille. Dazu blond-brünettes Haar, das selbst mit langem Seitenscheitel keine Frisur ergeben will. Das ist Jeff Dahmer. So schlurft er durch die Reverege Highschool in Ohio. Und so schlurft er auch auf den ersten Seiten des Comics einsam auf einer Straße entlang. Bis er eine überfahrene tote Katze findet.

Er hebt sie auf und trägt sie nach Hause. Dabei laufen ihm ein paar Nachbarbuben über den Weg, die ihn bis zu seinem Ziel – einem kleinen Schuppen - begleiten. Vor den Buben stopft Dahmer den Tierkadaver in ein Einmachglas. Er wolle die Knochen studieren, erklärt er. Ihn interessiere, was im Körper ist. Die Buben rennen schockiert und sich übergebend davon. Dahmer war für sie ein Freak.

Als Kind sammelte Dahmer Insekten, mit etwa zwölf Jahren wendete er sich überfahrenen Tieren zu, liest man dazu in den Anmerkungen im hinteren Teil des Buches.

In der Schule ein Außenseiter

Aber zurück zum Comic. Durch sein merkwürdiges Verhalten ist Dahmer in der Schule ein Außenseiter. Einer, der gern mal in der Bücherei einen epileptischen Anfall vortäuscht – sehr zur Freude seiner Mitschüler. Noch lustiger finden die es allerdings, wenn Dahmer einen Spastiker nachahmt. Davon sind sie so begeistert, dass sie den "Dahmer-Fanclub" gründen. Gründungsmitglied ist der Comiczeichner Derf Backderf, der die Graphic Novel "Mein Freund Dahmer" geschrieben hat. Obwohl: wirklich befreundet waren sie nicht. "Man schleifte ihn mit und ignorierte ihn."

Derf Backderf erzählt in diesem Comic von seinem Mitschüler, der etwas abgeschieden mit seinem jüngeren Bruder und seinen Eltern lebte und dessen Eltern mehr mit ihrer kaputten Ehe beschäftigt waren, als sich um Dahmer zu kümmern. Unter diesen Streitereien litt Dahmer enorm, wie er mehrmals in Interviews erzählte.

Er begann zu trinken – niemandem konnte er in den 1970er Jahren in der ländlichen Gegend von seiner Homosexualität erzählen, geschweige denn von seinen immer kranker werdenden Phantasien, die in einer totalen Kontrolle seiner Sexualpartner enden sollten.

Keine Hilfe

Der Comiczeichner Backderf wundert sich im Laufe der Geschichte immer wieder, warum Dahmers merkwürdiges Verhalten keinem Erwachsenen auffiel, allen voran den Eltern oder Lehrern. Dass er selbst und seine Freunde vom Dahmer-Fanclub sich auch intensiver mit Dahmer beschäftigen hätten können statt nur seine Abartigkeiten lustig zu finden, steht allerdings nicht zur Debatte.

Und doch ist das die Frage, die bei "Mein Freund Dahmer" nachwirkt: Hätte man dem Serienmörder irgendwie helfen können? Wer und wie? So zeichnet Backderf seine Erinnerungen an die Highschoolzeit wertfrei. Alles in Schwarz-Weiß - wobei er stilistisch stark an Robert Crump erinnert.

Dahmer wurde immer einsamer und in der Schule regelmäßig gemobbt. Zwei Wochen nach seinem Highschool-Abschluss verübt Dahmer seinen ersten Mord. Mit dem ersten Mord endet die Erzählung.

"Ein kranker Bastard"

Im Nachwort erhält Backderf 13 Jahre später einen Anruf von seiner Frau, einer Journalistin, die ihm von einer Riesenstory erzählt: ein Massenmörder, der mit ihm in die Klasse gegangen sei. Backderf tippt schnell auf Dahmer.

Zwanzig Jahre lang haben Backderf die Erinnerung an die Highschoolzeit beschäftigt. Aber erst 1994, nach der Ermordung Dahmers im Gefängnis durch einen anderen Häftling, begann er mit einer achtseitigen Kurzgeschichte, die er 1997 fertig stellte. 2002 veröffentlichte er eine 24-seitige Geschichte im Eigenverlag und wurde damit für den Eisner Award, eine der wichtigsten Auszeichnungen für Comics, nominiert.

Mit dem Ergebnis war Backderf aber nicht zufrieden, er begann zu recherchieren, las sich durch die Akten von Polizei und FBI, führte Interviews und vertiefte sich in alle Interviews, die Dahmer gegeben hatte. 2011 zeichnete er die Geschichte neu. Am Ende des Buches verweist er auf all die Quellenangaben. Backderfs Mitgefühl seinem Mitschüler gegenüber endet ganz klar mit dem ersten Mord: "Dahmer war ein kranker Bastard, dessen Verkommenheit nahezu jenseits allen Verständnisses liegt. Bemitleidet ihn, aber bemuttert ihn nicht."

Service

Derf Backderf, "Mein Freund Dahmer", aus dem Amerikanischen übersetzt von Stephan Pannor, Graphic Novel, Metrolit Verlag