Henning Beck über Mythen der Kreativität
Biologie des Geistesblitzes
An Büchern über Kreativität herrscht kein Mangel. Ganze Regale von Ratgebern sollen uns helfen, den Gedanken freien Lauf und die Ideen sprudeln zu lassen. Doch ganz so einfach lässt er sich nicht einfangen, der Geistesblitz. Auf gut 200 Seiten gibt Henning Beck einen Einblick in den neuesten Stand der Gehirnforschung.
8. April 2017, 21:58
Das Gehirn gilt als die Krone der Schöpfung – die perfekte Rechenmaschine, präziser und leistungsfähiger als jeder Computer. Doch das ist Quatsch, wenn es nach dem Neurobiologen Henning Beck geht.
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Das Gehirn ist ein selbstverliebter, fauler und eitler Haufen von divenhaften Nervenzellen, die die unliebsame Drecksarbeit im Nervensystem an ihre Helferzellen abtreten und dabei selbst nichts anderes können, außer elektrische Impulse zu erzeugen. Dabei machen sie auch noch häufig Rechenfehler, sind relativ langsam und lassen sich andauernd ablenken, weil sie permanent mit ihren Kollegen plaudern."
Und doch geschieht das Wunder: Aus dem Tohuwabohu an elektrischen und chemischen Impulsen entsteht eine geniale Idee. Wie das möglich ist, zeigt Henning Beck in seinem Buch "Biologie des Geistesblitzes". Doch bevor es ans Eingemachte geht, müssen erst einmal die Grundlagen geklärt werden. Und weil das Gehirn zu den komplexesten Strukturen in der Natur gehört, braucht das eine ganze Weile. Über 140 Seiten gibt Beck einen Crashkurs in seinem Fachgebiet, der Neurobiologie. Da erfahren wir alles über die verschiedenen Teile des Gehirns, von A wie Amygdala bis Z wie Zwischenhirn. Wir lernen, wie Nervenzellen aufgebaut sind und wie sie über Synapsen miteinander in Verbindung stehen. Doch Nervenzellen alleine machen noch kein Gehirn – es braucht auch Helferzellen, die die Neurone mit Nährstoffen versorgen, sie von der Außenwelt abschirmen oder Alarm schlagen, wenn Krankheitserreger im Anmarsch sind.
Das menschliche Problem der Nervenzellen
Henning Beck erschlägt die Leser fast mit Fakten und Fachbegriffen, trotzdem bringt er es fertig, dass "Biologie des Geistesblitzes" eine kurzweilige Lektüre bleibt. Kein Wunder, denn Beck ist nicht nur Doktor der Neurobiologie, er wurde 2012 auch deutscher Meister in einer Disziplin namens "Science Slam". Dabei halten Wissenschaftler Vorträge von maximal zehn Minuten, und am Ende entscheidet das Publikum, welcher der unterhaltsamste war.
Beck hat schon mehr als 15 solcher Bewerbe gewonnen, und "Biologie des Geistesblitzes" ist ein Kondensat seiner Science-Slam-Auftritte – ein wissenschaftlicher Vortrag, der sich als Buch verkleidet. Das zeigt sich am Schreibstil von Beck, der nahe am gesprochenen Wort liegt. Und auch den einen oder anderen Kalauer kann er sich nicht verkneifen, etwa, wenn er beschreibt, wie Nervenzellen eine Beziehung mit besonderen Helferzellen eingehen, den Oligodendrozyten, denn die Nervenzelle hat laut Beck ein sehr menschliches Problem:
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Sie müffelt äußerst unangenehm unter den vielen Achseln ihrer Dendriten. Bevor sie sich nämlich auf ein Rendezvous einlässt, hält sie sich unliebsame Verehrer vom Hals, indem sie Hemmstoffe ausschüttet, die für die meisten Zellen äußerst unangenehm sind. Sobald sie jedoch auf den richtigen Begleiter trifft, schaltet sie die Ausschüttung dieser Hemmstoffe ab – und plötzlich stellt der Oligodendrocyt fest: Nanu, was ist denn das für eine hübsche Zelle in meiner Nachbarschaft?
Muster finden Muster
So haarsträubend manche Vergleiche sein mögen, sie bleiben im Gedächtnis und bereiten die Leser auf das große Finale vor: die Klärung der Frage, wie ein Geistesblitz entsteht. Wird ein kreatives Problem bewusst, wandert es in die verschiedensten Hirnregionen, die dezentral daran arbeiten und das Problem mit bestehenden Gedankenmustern abgleichen. Dabei bilden sich neue Muster, die gesammelt und bewertet werden. Das alles passiert unbewusst, und gerade in Momenten, wo wir am wenigsten daran denken - beim Einkaufen oder unter der Dusche - gelangt ein neues Muster ins Bewusstsein - wir haben einen Geistesblitz. Das funktioniert, gerade weil das Gehirn alles andere als die perfekte Rechenmaschine ist.
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Das Gehirn (...) verarbeitet Informationen auf andere Weise als ein Computer - und das macht es so besonders. Kreativität und neue Ideen benötigen unbedingt so ein Gehirn: "Verrückt" muss es sein, es muss Fehler machen und Dinge neu kombinieren können. Ohne diese wundersame Eigendynamik würde es keine Geistesblitze geben."
Am Ende wird klar: "Die Kreativität" gibt es nicht. Und auch kein bestimmtes Kreativitätszentrum im Gehirn. Auch wenn es immer wieder heißt, die rechte Hirnhälfte sei für kreatives Denken zuständig – in Wahrheit brauchen wir immer beide Hälften. Und auch der alte Spruch, wir würden nur zehn Prozent unseres Denkvermögens nutzen, entpuppt sich als Mythos. Egal, worüber wir brüten – das Gehirn arbeitet immer mit voller Auslastung. Doch es darf und soll auch Fehler machen, denn nur so können die Gedanken ihre gewohnten Bahnen verlassen.
"Biologie des Geistesblitzes" ist kein einfacher Ratgeber, um in wenigen Schritten kreativ zu werden. Ein stilistisches Meisterwerk ist es auch nicht unbedingt, doch wer ganz genau wissen will, welche Wunder sich da täglich zwischen unseren Ohren abspielen, für den hat Henning Beck leicht verständliche und vor allem unterhaltsame Antworten parat.
Service
Henning Beck, "Biologie des Geistesblitzes. Speed up your mind!", Springer Spektrum