Karl Markus Gauß über seine Kindheit
Der Salzburger Autor Karl Markus Gauß hat sich als Experte für ethnische und religiöse Minderheiten in Europa einen Namen gemacht. Er hat die Ränder des Kontinents mit ihren vielen vergessenen und verdrängten Kulturen erkundet - als Reisender und als Autor.
8. April 2017, 21:58
Darüber hinaus begleitet er als scharfzüngiger Chronist das Zeitgeschehen - nachzulesen ist das unter anderem in vier Journal-Bänden. Da wie dort spielt die Familiengeschichte von Karl Markus Gauß eine gewichtige Rolle - seine Herkunft als Kind von Donauschwaben, die nach dem Krieg die Wojwodina verlassen haben. Über diese Kindheit hat Karl Markus Gauß jetzt ein Buch geschrieben.
Morgenjournal, 30.7.2013
"Das Erste, was ich sah" heißt das Buch und es beginnt nicht mit dem Sehen, sondern mit dem Hören - mit einer Radiostimme. Anno 1959 - da war Karl Markus Gauß fünf Jahre alt -, vom Kinderzimmer aus hat er bereits die Wohnung erobert, das Haus, den Spielplatz, die Siedlung am Rand von Salzburg. Vertriebene aus den deutschsprachigen Ländern haben da gewohnt - Sudetendeutsche, Dobrudscha-, Karpaten- und Bessarabien-Deutsche, Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben. "Beratungsstelle für Volksdeutsche" stand an der Tür der Gaußschen Wohnung und die Menschen, die da ein und aus gingen "hatten alle ihre eigene Sprache", erzählt Karl Markus Gauß. Da wurde etwa nicht schikaniert, sondern geschurigelt und kujoniert. "Ich war der einzige gebürtige Österreicher der Familie", schreibt Karl Markus Gauß. Die Familie, das waren neben den Eltern zwei große Schwestern und ein Bruder, drei Jahre älter - Karl Markus war das Nesthäkchen, umsorgt und verhätschelt.
Karl Markus Gauss widersteht der Versuchung, Schnurren zu erzählen, nie gleitet seine Erzählung ins Anekdotische ab. Mit einer guten Portion Selbstironie, unsentimental und ohne Weichzeichner unternimmt er in 39 Episoden eine vorsichtige Aneignung seiner eigenen Geschichte. Die Nachkriegskindheit in der Vertriebenen-Beratungsstelle wird hier aber nicht zum Besonderen stilisiert, vielmehr schildert Karl Markus Gauß berührend das In-die-Welt-treten eines Kindes und ruft so beim Leser, bei der Leserin eigene Erinnerungen wach. Die Milch mit Haut und die Teppichklopfstange im Hof - Treffpunkt und Turngerät -, Großelternbesuche, Tretroller und Fußball, erste Fernseherlebnisse, der schwarze Telefonapparat, die böse Nachbarin, der Kopfschüssler und der blinde Losverkäufer.
Bis zum 8. Lebensjahr reicht die Erzählung, 120 Seiten atmosphärisch dichter, konzentrierter Prosa. Zum Schluss liegt der kleine Karl Markus tuberkulosekrank im Bett - mit Büchern. "Ich konnte jetzt lesen." Das ist der letzte Satz. Er markiert den Eintritt in eine neue Welt.