Streitschrift von Ilija Trojanow

Der überflüssige Mensch

Ilija Trojanow gilt, spätestens seit er 2006 mit seinem Roman "Der Weltensammler" reüssierte, als einer der interessantesten Autoren des deutschen Sprachraums. Dieser Tage erscheint nun ein neues, brisantes Buch von Ilija Trojanow, ein Essay über Menschenrechte und Menschenwürde in Zeiten des globalisierten Kapitalismus.

Keine Perspektiven

Dieses Buch ist nichts für schwache Nerven. Auf knapp 100 Seiten stellt Ilija Trojanow die schmerzhaften, die wirklich wichtigen Fragen: "Es geht um ein Grundproblem, nämlich, dass der Spätkapitalismus oder der globalisierte Turbokapitalismus keinerlei Perspektiven bietet für einen Großteil der Menschheit."

Sieben Milliarden Menschen bevölkern derzeit den Planeten Erde. Tendenz: steigend. Auch wenn das niemand offen aussprechen würde, in den Augen neoliberaler Fundies ist ein Gutteil davon überflüssig: der Subsistenzbauer in Mocambique, die abgebaute "Schlecker"-Kassiererin in Halle, natürlich auch der "Que Sera, Sera"-fidelnde Rom in der Wiener U-Bahn, dessen Kumpel mit einem Plastikbecher von Sitzbank zu Sitzbank geht und von grantig blickenden Fahrgästen ein paar armselige Cent einsammelt.

"Sind Sie überflüssig?", fragt Ilija Trojanow zu Beginn seines Buchs:

Menschen werden wie Müll entsorgt

Ilija Trojanow läßt keinen Zweifel daran, dass er die politischen und ökonomischen Entwicklungen der letzten dreißig Jahre mit Argwohn beobachtet hat. Global gesehen mag der entfesselte Finanzkapitalismus ein paar zehntausend Investoren reich und ein paar hundert superreich gemacht haben: Auf der anderen Seite aber hat dieses System Trojanows Einschätzung nach Millionen und Abermillionen in Marginalisierung und Prekarisierung gestoßen. Wo alles und jedes dem Regime der Märkte unterworfen wird, wird jede Menge Müll produziert, auch und gerade menschlicher Müll, wie Trojanow in Anlehnung an den Philosophen Zygmunt Bauman drastisch formuliert: "Manche Menschen sind in diesem System Müll. Irgendwann weiß man nicht, wohin damit."

Wenn man nun die globale Situation in den Blick nimmt: Wer sind die Überflüssigen? Welche Bevölkerungsgruppen haben in der rein renditeorientierten Verwertungslogik des modernen Kapitalismus keinen Platz mehr?

"Ganz einfach: die kleinen Bauern, die Subsistenzbauern, also eigentlich jene, die am ökologischsten leben und die die längste Zeit unserer Menschheitsgeschichte den Großteil des menschlichen Daseins ausgemacht haben", meint Ilija Trojanow. "Diese Menschen haben eigentlich keine Perspektive, da es Kapitalismus nur sinnvoll ist, industrielle Landwirtschaft zu betreiben. Ich komme gerade aus Indien, und da wird heftig darüber diskutiert, dass es zwar eine Entwicklung, ein Wachstum gibt für die Mittelklasse, die tatsächlich teilweise reüssiert, aber in der bäuerlichen Bevölkerung herrscht massenhaftes Elend, was sich auch darin ausdrückt, dass kleine Bauern in Indien massenhaft Selbstmord begehen."

Der Terror der Effizienz

Es muss nicht unbedingt Indien sein: Auch im reichen Westeuropa produziert ein dem Terror der Effizienz unterworfener Kapitalismus jede Menge menschlichen Ausschuss, wie Trojanow feststellt:

"Was ich in meinem Buch beschreibe, ist der enorme Druck, der heute auf Berufstätigen lastet, weil sie wissen, dass sie sehr, sehr schnell durch eine Falltür ins Nichts fallen können", so Ilija Trojanow. "Da gibt's diese Tendenz der Selbstoptimierung, der Mensch muss auch ständig ein Upgrade machen, er muss ständig besser werden, damit er in diesem zunehmenden Konkurrenzkampf, den auch die jungen Leute schon in der Schule spüren, auch auf den Unis, die vollkommene Kapitalisierung und Ökonomisierung unserer Unis, das heißt, die Menschen haben wirklich Angst, sind verunsichert und denken: Jeder ist sich selbst der Nächste, ich muss jetzt wirklich mit allen meinen Kräften Wasser treten, um nicht unterzugehen. Und daraus ergibt sich natürlich grundsätzlich ein Mangel an gesellschaftlicher Solidarität, denn politisches Engagement bedeutet ja seit jeher, dass man über die eigenen Partikularinteressen hinausblickt, und dass man sagt: Es gibt tatsächlich eine Vision, die uns allen gut tut. Wenn man aber zulässt, dass man in diesem Prozess des individuellen Erfolgskampfes sich zerreist, dann kann es natürlich überhaupt nicht zu einer solchen Solidarität kommen."

"Die Lügen der Ökonomen zerfleddern"

Es ist ein über weite Strecken düsteres Szenario, das Ilija Trojanow in seiner Streitschrift zeichnet. Als Schwarzseher vom Dienst will sich der Autor allerdings nicht profilieren: "Ich bin kein Apokalyptiker. Ich glaube, dass wir auch diese Krise überwinden werden. Ganz entschieden bin ich aber dafür, dass wir diese Lügen von der schönen heilen Welt der Ökonomen zerfleddern: Es gibt kein Weitermachen wie bisher. Das würde tatsächlich in die Katastrophe führen."

Und zwar nicht nur in eine ökonomische, sondern auch in eine ökologische. Welche Gegenstrategien schlägt Ilija Trojanow nun vor? Zunächst einmal gelte es, so der Autor, die gewaltigen Vermögen, die in der Old wie der New Economy zusammengerafft wurden, zu zerschlagen. "Expropriation der Expropriateure" hieß das bei Marx:

Umverteilungsdebatte auf Vermögen gefordert

"Wir haben ja jetzt schon seit Jahrzehnten eine Entwicklung, die in allen Bereichen zum Abbau sozialer Sicherheiten geführt hat, und parallel dazu zu einer unglaublichen Konzentration von Vermögen und Einkommen", sagt Ilija Trojanow. "Bei Einkommen wird ja häufig diskutiert, höhere Steuern undsoweiter, da gibt es eine große Umverteilungsdebatte, die gibt es beim Vermögen fast gar nicht, obwohl das Vermögen das Relevantere ist. Denn: Wir leben real gesehen, das schildere ich ausführlich, in einer Art Oligarchie. Und es ist so, dass diese enorme Konzentration an Vermögen tatsächlich grundsätzlich die demokratischen Strukturen gefährdet, weil wir inzwischen wissen, dass jemand, der mit sehr viel Geld ausgestattet ist, tatsächlich auf vielen Wegen die politischen Entscheidungsprozesse zu seinen Gunsten verändern kann."

Ob die Vermögenden dieser Welt die partielle Vergesellschaftung ihrer Gelder und Güter so einfach hinnehmen würden, ist eine andere Frage. Aber Ilija Trojanow ist davon überzeugt, dass massive Einschnitte dieser Art notwendig sind. Man wird als Schriftsteller schließlich noch träumen dürfen: von einem gerechteren, solidarischeren Wirtschaftssystem - und überhaupt: "Ich würde sagen, wer keine Visionen hat, der sollte zum TÜV gehen."

Service

Ilija Trojanow, "Der überflüssige Mensch", Residenz-Verlag

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