Bibelkommentar zu 1 Mose 28

Die Geschichte von Jakob in Beth-El ist auch eine Fluchtgeschichte. Der merkwürdige Traum Jakobs von der Erscheinung der Himmelstreppe ereignet sich auf der Flucht.

Da ist ein junger Mann, der Streit mit seinem Zwillingsbruder hatte. Mit List brachte er seinen Bruder um sein Erbe. Der Betrogene wollte sich rächen und seinen Bruder töten. Darauf ergriff der andere die Flucht.

Ein Asylwerber, der so eine Geschichte bei der Einvernahme durch die Asylbehörde erzählt, würde hochkantig hinausgeworfen, in Schubhaft genommen und wahrscheinlich umgehend in sein Heimatland abgeschoben werden.

Jakob ist unterwegs, seinen Heimatort hat er hinter sich gelassen. Nun sucht er eine Bleibe für die Nacht, denn die Dunkelheit ist schon hereingebrochen. Ein Stein wird zu seinem Kopfpolster oder zu etwas anderem, das ihm Schutz bietet. Erschöpft von der Wanderung des Tages schläft er ein. Und da hat er einen Traum: Eine Leiter – oder besser eine Treppe, steht auf der Erde. Die Spitze reicht in den Himmel. Dieses Bild ist vermutlich der babylonischen Tradition entnommen. Nicht eine wackelige Leiter, die man an eine Hausmauer anlehnt, sondern eine breite Treppe, die zum Tempel Gottes führt. Auf dieser Treppe bewegen sich Engel auf und nieder. Ein geschäftiges Treiben. Die Treppe mit den Engeln stellt die Verbindung zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und Mensch dar.

Nach einem Midrasch, das ist eine jüdische Auslegung, handelt es sich bei den auf-und absteigenden Engeln aber nicht um ein allgemein kosmologisches Ereignis sondern um eine auf Jakob zugeschnittene Vision. Jakob tauscht die Heimat gegen die Fremde. Demnach will Gott Jakob mitteilen, dass Gott mit ihm ziehe und ihn beschütze und die Engel ihn begleiten. Im Midrasch heißt es: Die aufsteigenden Engel sind die Engel der Heimat, die absteigenden Engel die der Fremde. An der Grenze werden sie sich ablösen, denn jedes Land mit anderen Lebensbedingungen und Gefahren braucht andere Engel. Und Engel sind nichts anderes als Boten Gottes. Also keine Himmelsleiter, auf der der erschöpfte Flüchtling selbst ins Paradies entschwinden könnte, sondern eine Treppe, auf der Gott mit seiner Verheißung erscheint. Jakob entschwebt nicht der Welt, sondern Gott spricht dem Erdenbürger auf seinem weiteren Weg Mut zu.

Gott wiederholt dabei die Verheißung, die er zuvor schon an Abraham gerichtet hatte. Das Land, auf dem Jakob liegt, spricht Gott diesem Flüchtling zu. Seine Nachkommen sollen sich ausbreiten in alle Himmelsrichtungen und durch Jakob sollen alle gesegnet werden. Eine kühne Verheißung, mit der die dort Ansässigen sicher keine Freude gehabt hätten. Und paradox das Versprechen des Segens. Derjenige, der sich den Segen erschlichen hatte, durch diesen Menschen sollen nun alle Völker gesegnet werden. Gottes Ratschlüsse sind manchmal unergründlich. Und sie sind vor allem nicht an irgendwelche menschlichen Voraussetzungen gebunden.

Erst nachdem Jakob erwacht, kommt ihm zu Bewusstsein, dass dieser Ort ein ganz besonderer Ort ist. Der Traum wird wieder lebendig. Träume sind nicht Schäume, im Gegenteil, ihnen wird in der Bibel eine besondere Bedeutung beigemessen.

Und da gibt es ein zweites Paradoxon. Gott offenbart sich Jakob als der mitziehende Gott, der schützend seine Hand über ihn hält. Jakob wiederum erklärt den Ort der Gottesbegegnung zu einem heiligen Ort, der das wahrscheinlich schon zuvor war. Jakob fällt nichts Besseres ein, als dem unsichtbaren und unergründlichen Gott ein Denkmal zu setzen und den Ort umzubenennen in Bet-El, Haus Gottes. Anscheinend soll nichts mehr daran erinnern, welches Heiligtum zuvor dort stand und wer dort Götter anbetete. Später wurde gerade dieser Ort zu einem wichtigen religiösen Zentrum des alten Israel. Positiv gedacht wird diese besondere Gottesbegegnung mit der Bekräftigung einer großen Verheißung zum Gedenk-oder Erinnerungsort.

Diese Begegnung mit Gott und der Traum von der Treppe müssen auf Jakob einen ganz besonderen Eindruck gemacht haben. Herrlich und schrecklich, faszinierend und furchterregend, wie Gott sich den Menschen zeigt.
Vielleicht hat dieses Erlebnis auch Jakobs Gottesbild verändert. Hier an der Grenze zwischen Heimat und Fremde spürt der Flüchtling, dass Gott kein Stammesgott ist, sondern ein Gott des ganzen Universums. Nicht ein Gott, der nur mit einem Stück Land verbunden ist und nur für die Menschen in der Heimat da, sondern auch für die in der Fremde und die Fremden. Ein Gott, der nicht nur seinem Stamm und Volk den Segen schenkt, ein Gott der Volksgemeinschaft und des Blutes, sondern ein Gott, der sein Volk zum Segensbringer für die Völker machen will.

Und daran erinnert der Stein. Ein Mahnmal und gleichzeitig ein Hoffnungszeichen. Ich kann mir vorstellen: An diesem Ort hat Jakob gelernt, was Hoffnung ist, und worauf seine Zuversicht gründet. Von diesem Ort geht er als ein anderer weg, im Vertrauen, von Gott behütet und beschützt zu werden und in der Gewissheit, dass bei allen Hindernissen, Gefahren und Bedrohungen sein Leben von jetzt an ganz im Dienst Gottes steht.