Diana Pinto über Veränderungen
Israel ist umgezogen
Gibt es neue Hoffnung auf den Friedensprozess im Nahostkonflikt zwischen Israel und Palästinensern? Unser Blick auf Israel scheint auf diese Fragestellung abonniert, meint die in Paris lebende Historikerin Diana Pinto.
8. April 2017, 21:58
Von Europa aus wird Israel in erster Linie im Verhältnis zu seinen arabischen Nachbarn und vor dem Hintergrund des Holocaust begriffen. Ein Fehler, denn, so Diana Pinto:
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Das heutige Israel wird von seiner europäischen Vergangenheit nicht mehr heimgesucht. Wichtiger aber ist noch, dass seine Verbindungen mit den Vereinigten Staaten, dem großen Beschützer und privilegierten Verbündeten, sich allmählich lockern.
Geistiger Umzug in den Cyberspace
Diana Pinto hat in vielen Reisen der israelischen Wirklichkeit auf den Zahn gefühlt - in kritischer Verbundenheit mit einem Land im Umbruch. Dabei hat sie beobachtet, wie chinesische Geschäftspartner hofiert und amerikanische Politiker düpiert werden. Ihr Befund: Israel versucht, sich seiner drängenden Probleme dadurch zu entledigen, indem es sie ignoriert. Es will nicht mehr ausschließlich vom Trauma der Shoa, vom Nahostkonflikt und dem Erbe des Zionismus bestimmt sein.
Ein Staat zieht geistig in den Cyberspace um und bezieht sich gleichzeitig auf eine andere virtuelle Welt, nämlich eine lange vergangene, biblisch-archaische Vergangenheit. So erfindet sich Israel im Rückzug neu, als zugleich extrem weltläufiges wie auch als ultrareligiöses Gebilde. Psychologisch gesprochen: Israel neigt zum Autismus.
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Der Autismus könnte sowohl den emsigen Aufbruch Israels zu Welten erklären, die es alleine beherrschen kann als auch seinen von jeher nach innen gerichteten Blick auf Gott historisch begreiflich machen, seinen fehlenden Antrieb, die anderen zu bekehren.
Aufbruch durch das Stargate
Ein Bild für diesen Exodus findet die hellsichtige und auch stilistisch brillante Autorin in der Science-Fiction-Architektur des "Stargate", wie Pinto die Abflughalle des Flughafens Ben Gurion nennt. Von hier fliegen die Start-Up-Helden des Mittelmeeres ab auf der Suche nach frischem Venture-Kapital aus dem Silicon Valley.
Israel hat heute mehr Unternehmen an der New Yorker Elektronikbörse Nasdaq notiert als alle europäischen Länder zusammen. Stark frequentierte fantasievolle Netzadressen wie israel.god künden vom gemeinsamen Fluchtpunkt aus Techno-Utopismus und identitätsstiftendem Messianismus. Wenn man es überspitzen wollte, könnte man das vielstrapazierte Bild des hedonistischen Tel Aviv als Blase erweitern und das Land als Ganzes als Blase betrachten, die sich weigert, sich über ihre inneren Verwerfungen und die außenpolitische Lähmung zu definieren. Zudem findet Pinto neben der Blase zwei weitere Metaphern für das soziale Leben:
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Das Land sieht sich als ein Aquarium, als eine Blase, als ein Zelt. Diese Bezüge zu Wasser, Luft oder Unsicherheit haben nicht viel mit einer Nation zu tun, die den Anspruch hat, Haus oder gar Festungsmauer seines Volkes zu sein.
Neues und Widersprüchliches
Diana Pinto denkt aber viel zu differenziert, um solche Selbstentwürfe als kollektiven Eskapismus zu verdammen. Die Symbolik des Zelts, in dem das Judentum nach dem Auszug aus Ägypten Schutz suchte, reaktualisiert sich für sie in den Zeltstädten der protestierenden Jugend 2011 und in der Rede vom jüdischen Zelt, in dem die Frage des Platzes der Diaspora-Juden erörtert wird.
Pinto geht in ihrem bei aller Komplexität auch anschaulichen Reise-Essay von prägnanten Eindrücken aus, in denen sie das Neue, Widersprüchliche verdichtet. Zum Beispiel auf der Straße in Jerusalem. Dort entdeckt sie die Fusion von High Tech und Religiosität in Form von Anstandsbrillen für ultraorthodoxe Männer. Diese lassen Distanzen ab fünf Metern verschwimmen. Auf diese Weise können sie sich bewegen, ohne bekleidete Frauen unanständig anzusehen.
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Diese Lösung mag zwar widersinnig erscheinen, aber in philosophischer Hinsicht ist sie bemerkenswert, wenn man sie mit dem Vorgehen der islamistischen Extremisten vergleicht. Anstatt die unzüchtigen Frauen zu beleidigen oder zu steinigen, blenden die jüdischen Extremisten sie ganz einfach aus ihrem Gesichtsfeld aus.
Alle Positionen ernst genommen
Die Autorin engagiert sich politisch schon länger für ein demokratisches Judentum. In ihrem neuen Buch weist sich die in Paris lebende Autorin auch als Besucherin des Landes aus, die in dieser Doppelfunktion die Bruchstellen des Selbstverständlichen herausarbeitet.
Eine weitere Stärke begründet sich aus dem Umstand, dass Pinto im Unterschied zu vielen gängigen linken israelkritischen Positionen auch konservative und nationalreligiöse Positionen ernst nimmt. Im Nachwort deutet Pinto aber doch noch an, dass die diagnostizierte postmoderne Leugnung des Nahostkonflikts nicht die Lösung sein kann. Sie appelliert an diejenigen, die weder in den Cyberspace noch in der Bibel leben wollen, sondern ein Stück Normalität voranbringen wollen.
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Im Gedanken an sie habe ich dieses Buch geschrieben, damit sie Israel durch ihre politische Partizipation zu seiner alten Bescheidenheit zurückführen können, bevor es zu spät ist.
Service
Diana Pinto, "Israel ist umgezogen", aus dem Französischen übersetzt von Jürgen Schröder, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag
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