Arrmut und Entscheidungen

Knappheit

Es begann mit einer Freundschaft zwischen dem Harvard-Ökonomen Sendhil Mullainathan und dem Princeton-Psychologen Eldar Shafir. Der Ökonom befasste sich mit Armut und der Psychologe mit der Art und Weise, wie Menschen Entscheidungen treffen.

Es begann mit einer Freundschaft zwischen dem Harvard-Ökonomen Sendhil Mullainathan und dem Princeton-Psychologen Eldar Shafir. Der Ökonom befasste sich mit Armut und der Psychologe mit der Art und Weise, wie Menschen Entscheidungen treffen.

In gemeinsamen Gesprächen fiel ihnen Folgendes auf, erzählt Eldar Shafir: "Der Großteil der Entscheidungsforschung wird in den Wirtschaftswissenschaften betrieben. Der Schwerpunkt liegt dabei darauf, wie Menschen mit ihrem Kapital umgehen. Die Forschung über Armut befasst sich wiederum nicht damit, wie Entscheidungen getroffen werden. Also beschlossen wir, beides in einem Projekt zu kombinieren. Wir untersuchten, wie arme Leute Entscheidungen treffen. Je tiefer wir in die Materie eindrangen, desto klarer wurde uns: Es geht hier nicht so sehr um die Psychologie von Entscheidungen und Armut, sondern um Entscheidungen und Knappheit. Das kann auf Geld zutreffen, aber auch auf Zeit oder Kalorien oder soziale Beziehungen. Da wurde uns klar, dass wir uns ein neues Gebiet erschlossen hatten."

Solche Fragestellungen liegen schon seit einigen Jahren im Trend. Forscher befassen sich zunehmend damit, was eigentlich das ökonomische Handeln des Menschen bestimmt, denn das ökonomische Eigeninteresse allein kann es wohl nicht sein, sonst würden viele Kauf- oder Investitionsentscheidungen logischer ausfallen.

"Wir sind Lebewesen mit beschränkter Hirnkapazität"

Knappheit ist also eine wichtige Ergänzung zum Entwirren der widersprüchlichen, psychologischen Motive, die unseren Entscheidungen zugrunde liegen.

"Wir sind Lebewesen mit beschränkter Hirnkapazität und limitierter Aufmerksamkeitsspanne", meint Shafir. "Wenn wir zu lange beim Autofahren telefonieren, haben wir naturgemäß weniger Zeit, andere Autofahrer wahrzunehmen. Und wenn man zu lange in einem Tunnelblick verharrt, weil man beispielsweise zu sehr mit seinen Finanzen befasst ist, dann hat man weniger Zeit, sich anderen Bereichen zu widmen."

Zu wenig Geld im Börsel. Das ist eine Erfahrung, die seit der Wirtschaftskrise 2008 nun auch sehr viel mehr Menschen in den sogenannten reichen Industrieländern machen. Und man muss auch nicht unter die Armutsgrenze rutschen, um unter Knappheit zu leiden, meint Eldar Shafir:

"Es reicht schon, wenn man sich sehr auf sein Budget konzentriert. Wenn man dafür sehr viel Zeit verwendet und immer daran denkt, wie man bis ans Monatsende durchkommt, - dann ist das ein Verhalten, das der Psychologie von Knappheit entspricht. Es gibt jüngste Daten, die besagen: Viele Durchschnittsamerikaner können im Notfall innerhalb eines Monats keine 2000 Dollar aufbringen. Der Anteil liegt um die 50 Prozent."

Fluide Intelligenz

Eines ihrer Experimente führten die Forscher in einem Einkaufszentrum in New Jersey durch. Dort, so die Überlegung, würden sie bei den Besuchern eine relativ breite ökonomische Streuung finden, also Menschen, die die erwähnten 2000 Dollar innerhalb eines Monats nicht aufbringen würden, aber auch solche, die sich das spielend leisten könnten.

"Wir haben den Teilnehmern an der Studie finanzielle Szenarios vorgelegt", erzählt Shafir. "Zum Beispiel: Wie würden sie eine 2000 Dollar teure Autoreparatur bezahlen? Davor und danach führten wir einige kognitive Standardtests durch, die Aufmerksamkeit und fluide Intelligenz messen."

Unter fluider Intelligenz versteht man die Fähigkeit, mit neuen Situationen umzugehen, neue Probleme zu lösen. Einer der Tests lief beispielsweise so ab: Die Teilnehmer saßen vor einem Computermonitor und hatten zwei Finger auf der Tastatur. Wenn sie beispielsweise ein Herz links sahen, mussten sie die linke Taste drücken; tauchte es rechts auf, war die rechte Taste dran. Doch wenn eine Blume auf dem Bildschirm erschien, mussten sie die jeweils andere Taste drücken. Also Blume rechts – linke Taste, Blume links – rechte Taste. Herzen und Blumen erschienen nach dem Zufallsprinzip.

"Dann teilten wir die Teilnehmer nach dem von ihnen angebenen Haushaltseinkommen in Reiche, Arme und solche mit mittlerem Einkommen ein", so Shafir. "Und dann verglichen wir deren Test-Leistung. Jene von Leuten mit Geld war gleich gut, egal ob sie zuvor über eine teure Autoreparatur nachdenken mussten oder nicht, Leute mit nur wenig Geld schnitten nach der Problemstellung bei Aufmerksamkeit und fluider Intelligenz eindeutig schlechter ab."

Zeit-Knappheit

Chronische Knappheit führt zu schlechten finanziellen Entscheidungen. Menschen, die immer Geldsorgen haben, sind so sehr mit dem täglichen Hin- und Herrechnen befasst, dass sie gar nicht überlegen, wie sie beispielsweise ansparen könnten. Oder sie borgen Geld zu hohen Zinsen, die letztlich die finanzielle Not noch vergrößern. Menschen haben eben nur eine bestimmte Bandbreite an Aufmerksamkeit, meinen die Autoren. Wenn diese durch eine Sache großteils okkupiert ist, bleibt wenig für andere Bereiche des Lebens.

Bei Menschen, die ständig zu wenig Zeit haben, sei es ganz ähnlich. Dabei brauche man sich nur ein paar grundlegende Fragen zu stellen, sagt Shafir: "Wie organisiert man seinen Tag? Terminisiert man wichtige Verabredungen, die mehr Aufmerksamkeit erfordern, für ruhigere Momente? Und setzt man die weniger wichtigen Termine dann an, wenn man schon etwas zerstreut ist? Liest man noch schnell die E-Mails vor einer Sitzung? Ist man sich bewusst, dass man eine wichtige Mail dann während der Besprechung beantworten wird und somit weniger Bandbreite für die Vorgänge rundherum hat?"

Notorischer Zeitmangel mag durch klügeres Zeitmanagement zu beheben sein. Chronische Geldnot von Menschen an der Armutsgrenze – ob in den Industrie- oder Entwicklungsländern - verlange freilich durchdachte Programme. Das ist nicht nur für den einzelnen Betroffenen wichtig, argumentiert Eldar Shafir. Denn: Knappheit ist keine individuelle Erfahrung:

"Kollegen schrieben in einer jüngsten Studie, dass die Menschen während der Großen Depression in den 1930er Jahren liebloser zu ihren Kindern waren. Das passt auch mit unseren Überlegungen zusammen. Wenn man durch Knappheit überwältigt ist, hat man weniger gedanklichen Spielraum, um Zeit mit seinen Kindern zu verbringen. Als Eltern braucht man viel Geduld, viel Aufmerksamkeit. Und wenn man ständig mit etwas anderem beschäftigt ist, dann hat man für die Kinder weniger Kapazität übrig. Das hat zur Folge, dass man ungeduldiger, weniger liebevoll ist."

Service

Sendhil Mullainathan, Eldar Shafir, "Knappheit", übersetzt von Carl Freytag, Campus Verlag